Nach dem Roan von Alexandre Dumas d.J. „La dame aux camélias“.
Musik Fréderic Chopin. Choreographie, Inszenierung und Lichtkonzept: John Neumeier. Bühne und Kostüme: Jürgen Rose. Musikalische Leitung: Markus Lehtinen. Klavier: Michael Bialk, Igor Zapravdin
Ein Abschiedsgeschenk von John Neumeier? Hoffentlich nicht. Denn wie man erfährt, verlässt er zwar „seine“ Compagnie in Hamburg, gründet aber ein neues Ballettfestival in Baden-Baden. Alle hoffen, dass er mit neuen Choreographien auch weiterhin die Wiener Ballettfans beglückt.
Alle Fotos: Ashley Taylor. Bild links: Marguerite und Armand + Ensemble, Mitte: Armand. rechta: Marguerite und Armand
Denn beglückend ist es immer, wenn der Grandseigneur des Handlungsballetts eine seiner Arbeiten in Wien zeigt. Beglückend ist es dann noch mehr, wenn die beiden Protagonisten Olga Esina und Brendan Saye heißen!
Olga Esina verkörpert in jeder Phase, mit Blicken und Gesten – nur ihre Hände allein erzählen viel von der Geschichte – Marguerite Gautier. Als begehrte Lebedame der Gesellschaft wirkt sie ebenso überzeugend wie als erst zögerliche, kokekette Schöne, die sich von Armand Duval gerne umschmeicheln lässt. Doch dann schmilzt die Koketterie und sie begreift, wie sehr sie diesen zunächst schüchternen, leicht tölpelhaft wirkenden jungen Mann zu lieben beginnt. Höhepunkte des Balletts sind derer beiden Szenen, zunächst in ihrem Privatgemach – ein Rausch des gegenseitigen Erkennens, dann der Tanz der beiden mitten in der heiteren Gesellschaft auf dem Lande. Ihr Lieberausch ist von einer Intensität, die einem den Atem nimmt. Saye ist Armand, wie man sich ihn voestellt: dynamisch und zärtlich zugleich, von beieindruckender Sprungkraft und seine Hebefiguren wirken, als würde er mit einer Feder tanzen – was Olga Esina ja offensichtlich ist. Als er erkennt, dass Marguerite ihn verlassen hat, wirkt sein Solo wie eine Explosion der Wut und Enttäuschung.
Großartig sind auch alle anderen Figuren rund um das Liebespaar: Als Monsieur Duval, Armands Vater überzeugt Marcos Menha. Diese Rolle birgt große Schwierigkeiten – wie tanzt man einen steifen Menschen ohne Gefühle. Als er von Marguerite den Verzicht auf Armand fordert, ist er distanziert und kalt. Doch selbst er, der kalt Überlegende, wird von Marguerites tiefer Trauer erschüttert. Verweigert er ihr bei der Begrüßung den Handkuss, so beugt er sich am Ende voller Respekt über ihre Hand. Immer wieder bewundert man die Personencharakterisierung von John Neumeier. Mit wie wenigen Gesten es ihm gelingt, den Charakter tänzerisch herauszuarbeiten. „Tanz ist die lebendige Gestalt von Emotionen“ (Zitat aus Programmheft) ist sein Credo!
Tänzerisch herausragend sind auch die Figuren des „Balletts im Ballett“: Wie Mahnungen an ihr zukünftiges Schicksal tauchen Manon Lescaut (bekannt aus den Opern von Puccini und Massenet) und Des Grieux vor dem geistigen Auge Marguerites auf. Das Pas de deux als Spiegelbild des eigenen Lebens tanzen Kiyoka Hashimoto und Masayu Kimoto.
Konsequent bleibt Neumeier in der Zeit, wenn er von Jürgen Rose in die Periode des ausgehenden 19. Jahrhunderts passende Kostüme und ein dezentes Bühnenbild einfordert.
Ideal gebettet und geleitet ist das Ballettensemble in der Musik von Chopin – sensibel von Markus Lehtinen dirigiert und von den Pianisten Bialk und Zapravdin congenial gespielt.
Langer und begeisterter Applaus, standing ovations.
http://www.wiener-staatsballett.at
„Die Kameliendame“ ist noch am 22. April und 4. Mai 2024 mit Esina und Saye, am 27. April mit Bottaro und Dato, am 1. Mai mit Papava und Afshar zu sehen.
2. Besuch am 4. Mai
Das „Wiedersehen“ war intensiv, spürbar intensiver als beim Erstbesuch am 17. April. Es schien, als wären Olga Esina als Marguerite und Brendan Saye als Armand ganz tief in ihre Rolle eingetaucht. Die diversen pas de deux steigerten sich unglaublich, bis hin zum letzten: Marguerite erscheint tief in Schwarz gehüllt. Langsam, unsicher tritt sie auf Armand zu. Er zögert, nimmt ihr Mantel und Schleier ab. Alles geschieht mit verzögerten Gesten und Schritten. Annäherung geschieht vorsichtig, sie „erforschen“ einander, „erkennen“ einander und lassen die Leidenschaft geschehen, wissend, es wird das letzte Mal sein. Zuerst tanzt Marguerite noch im schwarzen Abendkleid, dann zieht er es ihr aus und sie wird zum jungen Mädchen, das im zarten Unterkleid alle Schranken ablegt. Beide ertanzen, umschlingen einander, fliegen und ihre Leidenschaft kennt keine Granzen.
Dieser pas de deux war so atemberaubend, dass der Dirigent Markus Lehtinen danach den Dirigentstab weglegte, das Orchester die Instrumente senkte und alle in begeisterten Beifall ausbrachen. Erst recht das Publikum.
Es war ein großes Fest des Tanzes! Dank an den grandiosen Choreographen John Neumeier und an Esina und Saye!
Wer die beiden in einer anderen Produktion erleben will: Am 31. Mai und 3. Juni tanzen sie miteinander im Ballett „Im siebten Himmel“