Sidi Larbi Cherkaoui. Ballet du Gran Théâtre de Genève. Eastman: Ihsane. Festspielhaus St. Pölten

Mit Texten in arabischer, französischer und englischer Sprache.

Sidi Larbi Cherkaoui widmete 2022 das Ballett „Vlaemsch“ seiner Mutter und seinen flämischen Wurzeln. Nun erforscht er in „Ihsane“ die Beziehung zu seinem Vater, der aus Marokko stammte und nach Belgien auswanderte. immer aber seiner Heimat und ihrer Tradition und Religion verhaftet blieb. Dieser Liebe zu Marokko spürt Charkaoui in „Ihsane“ nach.

Das Publikum entführte er in ein zweistündiges Märchen aus Musik, Gesang und Tanz. Der Abend wirkte wie ein riesiges, aufgeschlagenes Buch, aus dem die Figuren heraustreten, lebendig werden und Geschichten erzählen, ersingen, ertanzen. Da man die Texte nicht verstand, was sehr schade war – es wurden nur die englischen übertitelt und das viel zu schnell – war man auf seine eigene Intuition, Interpretation und auf eventuelle Erinnerungsbilder aus Marokko angewiesen.

„Ihsane“ bedeutet im Arabischen Brüderlichkeit, Liebe, Wohlwollen. Zugleich aber will Charkaoui mit diesem Titel an den brutalen Mord an dem gleichnamigen homosexuellen Jungen namens Ihsane (2012 in Lüttich) mahnend erinnern.

Es begann sehr real. In einer Medrese (Bühnenbild Amine Amharech) unterrichtet der Lehrer die arabische Schrift, lässt Schüler und Schülerinnen (!) kurze Liedtexte lernen und singen, fordert das Publikum auf, mitzusingen. Was viele auch begeistert taten. Danach löste sich die Wand der Medrese auf, übrig blieb das Tor, das, geheimnisvoll beleuchtet, Eingang oder Ausgang zu einer neuen, dem Publikum unbekannten Welt war. Im Halbdunkel verborgen spielten die Musiker eine Musik, die sehr alt klang, aber in der Tat von Jasser Haj Jussuf neu komponiert wurde. Ein magisch-mystisches Bild nach dem anderen verzauberte das Publikum. Es geschieht der Mord an Ihsane, es werden alte Mythen der Gnawas heraufbeschworen, man meint, ihre geheimnisvolle Feier (Lila) zu erleben, wo im Rauschtanz die Teilnehmer in Trance fallen und sich selbst erlösen. In weiten, im Tanz sich aufdrehenden Gewändern in den Abendfarben Marokkos (ocker, dunkelrot, lila – entworfen vom marokkanischen Designer Amine Bendriouich) erzählen die Tänzer vom Miteinander in spannenden Gruppenchoreographien, von Tieropfern, Begräbnisritualen und Teezeremonien – von einer Welt, die im Verschwinden begriffen ist und zu Tourismusperformance zu verkommen droht. Dass man die Texte der Sänger nicht verstand, hatte zur Folge, dass nach der Hälfte die Spannung und das Überraschungsmoment nachließen. Auch weil die Szenen einanander oftmals ähnelten. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen intensiven Abend mit mystischen Bildern und Musik, die erahnen lassen, was die religiöse und mystische Kultur Marokkos ausmacht(e).

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