Arthur Schnitzler: Anatol. Szenische Lesung im Südbahnhotel am Semmering

Für viele eine freudige Überraschung: Statt des erkrankten Michael Maertens las Joseph Lorenz den Anatol!

Daniel Keberle war Anatols „Gewissensspiegel“ Max und Gerti Drassl las/spielte die diversen Damen Anatols. Bravourös begleitet und angefeuert wurden Publikum und Darsteller von Maciej Golebiowski auf der Klarinette und Alexander Shevchenko am Bajan.

Joseph Lorenz, mit Schnitzlers Werken sehr vertraut, besonders aber mit der Rolle des Anatol, war – wie zu erwarten – der Anatol schlechthin: Melancholiker, Verführer und immer auch zugleich derjenige, der als Jagender doch der Verlierer ist. Mit der feinen Mischung aus Melancholie, Selbstzweifel und vor allem Ironie schuf Lorenz einen Anatol, wie man ihn in den letzten Jahren besser nicht erlebte. Jede feinste Regung war ihm abzulesen: Eitelkeit, Stolz auf seine Eroberungen, verletzter Stolz. Für humorige Spiegelkritik sorgte Keberle als Max. Er war nicht Stichwortbringer, sondern gleichberechtigter Motor des Geschehens. Beide spielten einander die Pointen in einem gekonnten Ping-Pongspiel zu.

Zwischen ihnen Gerti Drassl zunächst als etwas dümmlich-verliebte Cora in der Episode „Frage an das Schicksal“. Da hatte sie ja nicht allzu viel zu spielen. Schlafen, schlafen, aufwachen und von nichts was wissen. Die freche, schlagfertige Anni im „Abschiedssouper“ war ihr schon eher auf den Leib geschrieben. Großartig der Schluss: Beide wollen einander in der Fertigkeit des Betrügens übertreffen, Anatol muss erkennen, dass ihm Anni überlegen ist. Weniger überzeugte Gerti Drassl in der Episode „Weihnachtseinkäufe“ – sie tat sich schwer, die Mondäne aus Hietzing glaubhaft rüberzubringen.

In „Anatols Hochzeitsmorgen“ liefen alle drei zu Hochform auf: Anatol in seiner Verzweiflung und Angst vor der nahen Hochzeit und dem von Ilona drohenden Boykott, Ilona zuerst als schnurrend-verliebtes Kätzchen, fährt die Krallen aus und Max ist der verzweifelte Schlichter.

Das Trio spielte an zwei Nachmittagen hintereinander. Beide habe ich besucht. Vielleicht war die zweite Vorstellung noch um einen Deut intensiver. Gerti Drassl wirkte sicherer, und Joseph Lorenz konnte noch ein paar Nuancen zulegen. Aber das ist eine sehr subjektive Meinung.

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