Sabine Thiesler, Leb wohl, Schwester. Heyne Verlag

Wer einmal einen „Thriller“ von Sabine Thiesler gelesen hat, der ist ihr verfallen. Mit Neugier und Ungeduld wartete man auf die Neuerscheinung: „Leb wohl, Schwester“ ist spannend und klug geschrieben, wie alle vorangehenden Bücher. Wie immer stellt die Autorin eine psychisch gestörte Figur als Mörder, Mörderin in den Mittelpunkt. Und immer ist von Anfang an klar, wer der Böse, die Böse ist. Auch dieses Mal kann man die Mörderin bei ihreren Taten „zusehen“, ist direkt dabei. Es ist eine junge Kellnerin namens Stefania. Sie lebt mit ihrem Zwillingsbruder Stefano in Ambra, einem verschlafenen Nest in der Toskana. Als Kinder wurden die beiden von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Dieses grausame Erleben hat die beiden zusammengeschweißt und aus ihnen ein Liebespaar gemacht. Allerdings vor der Öffentlichkeit leben sie als Bruder und Schwester. Was Stefania unglücklich und neidisch auf alle glücklich Verliebten macht. Erst wenn sie diese getötet hat, kann sie einigermaßen ruhig weiterleben. Zwei in kurzen Abständen ermordete Paare machen dem Kommissaar Donato Neri schwer zu schaffen. Obwohl tatkräftig unterstützt von der neuen Kommissarin Romina, zweifelt er fast, ob sie je den Mörder finden werden….Mehr sei hier nicht verraten. Nur so viel: Die Stärke der Autorin besteht in ihrer humorvollen, leicht ironischen Charakterisierung des Kommissars einerseits und des psychologisch klug untermauerten gestörten Charakters der jungen Stefania. Und natürlich liefert das Ambiente des kleinen Dorfes und seiner oft recht skurrilen Mitbewohner den passenden Hintergrund. Auch den Krimi- und Thrillerverächtern zu empfehlen!

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Eva Strasser, Wildhof. Wagenbach Verlag

Lina ist eine schräge Figur. Erfolgreich in ihrem Beruf -was genau macht sie? . Aber sie hat eine Macke – irgendetwas ist schief gelaufen, man hat ihr eine Bewährungshelferin als Aufpasserin zur Seite gestellt. Warum? – Das spielt im Verlauf des Romans dann keine wesentliche Rolle. Sie ist auf dem Weg in das Dorf Wildhof – nomen est omen, dort sagen sich die Füchse gute Nacht- um das Erbe ihrer durch einen Autounfall ums Leben gekommenen Eltern zu schlichten und anzutreten. Haus und Garten ihrer Kindheit sind schön romantisch verfallen. Romantisch auch der umgebende Wald. Von den Naturstimmungen lebt dieser Roman, überwuchert die eigentliche Handlung. Denn da gibt es nicht viel zu erzählen: Lina organisiert das Begräbnis ihrer Eltern, findet im Haus Spuren ihrer Zwillingsschwester Luise, die eines Tages ohne Nachricht abgehauen ist. Hin und wieder bekommt Lina Wutanfälle, die sich nicht erklären lassen. Vieles bleibt ein Rätsel, vielleicht könnte man sagen ein liebenswertes Rätsel.

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Julia Schoch, Trilogie. Teil 1 – Das Vorkommnis. Untertitel: Biographie einer Frau

Ein Text, der kühler, distanzierter nie geschrieben und nie gelesen ward. Das Ich -die Erzählerin – die Schwester, die Halbschwester, die Kinder – alle ohne Namen: Sie, es, Mutter, Schwester, Halbschwester. Distanz ist die Haltung, die durch die Erzählung geht und auf die Leser einwirkt. Kühl erzählt die Autorin, will aufschreiben, was das unvermutete und späte Auftreten einer bisher unbekannten Halbschwester mit ihr macht. Die Halbschwester geistert zur Zeit auch durch andere aktuelle Romane, wie in Eliszabeth Strouts Erzählung, Am Meer oder Norbert Gstreins jüngstes Buch, Vier Tage, drei Nächte. Warum gerade in und nach der Pandemie die Frage, Suche nach einer Halbschwester durch die Literatur geistert, ist nicht wirklich erklärbar. Suche nach Familie, Aufdecken von Familiengeheimnissen? Julia Schoch umkreist die Frage ohne Antwort. Mal schreibt sie über ihre Kindheit in der DDR, erzählt die Geschichte der Mutter. Dann wieder ist sie in ihrer Gegenwart. Diese schweifende, kreisende Erzählweise, macht es den Lesern nicht leicht, den Gedankensprüngen und Zeitensprüngen zu folgen. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum das Auftauchen dieser Halbschwester die Erzählerin so aus dem Gleichgewicht bringt, zumal sie ja nichts unternimmt, um diese Frau kennenzulernen.

Sie, die Icherzählerin, ist aus der Bahn geworfen, alles irritiert sie, ihre Ehe, ihr Mann, am meisten ihre leibliche Schwester. Erinnerungen aus der gemeinsamen Kindheit in der DDR halten nicht als Leim, Kitt stand. Sie versucht, ein Puzzle aus den Erinnerungen zusammenzustellen und muss feststellen, dass im Rückblick vieles nicht stimmt. Wenn sich Erinnerungen als falsch oder unsicher herausstellen, was bleibt von dem Menschen – das scheint das Grundproblem dieses „Romans“ zu sein. Da erweist sich die (halbherzige) Suche nach der Halbschwester als ein geeignetes „Verschleppungsmanöver“, das von den Grundfragen ablenkt.

Ein interessant geschriebenes, sprachlich ausgefeiltes Buch, aber doch recht seltsam, wie die ganze Familie. Ein Buch, in dem am Ende die Erzählerin sich die Frage stellt:: „Was soll das sein, ein normales Leben?“ (181) Und Ironie des Ganzen: Genau das beschreibt Julia Schoch – ein ganz normales Leben!

Julia Schoch, Das Liebespaar des Jahrunderts. Biographie einer Frau. Teil 2

Eigentlich sollte der Untertitel „Biographie einer Familie“ lauten. Denn die Autorin geht in Ichform der Entwicklung nach, wie aus der „großen, unterschütterlichen Liebe“ eine ganz normale, triviale Alltagsgeschichte wird. Wie die innige Zweisamkeit der Jungend in eine zweckorientierte Gemeinsamkeit sich langsam, zunächst unmerklich wandelt. Was schon oft dokumentiert, in vielfältigster Form literarisch verarbeitet wurde. Mal voller Klischee, mal kitschfrei. Wie eben in diesem Werk. Schochs kühle, analytische Art schafft Distanz. Sie betrachtet, analysiert, was die Jahre, die Gewöhnung mit ihnen, dem Mann und der Frau, gemacht haben. Sie beginnt lakonisch: „Im Grunde ist es ganz einfach: Ich veralsse dich“, um am Ende des Romans zu überlegen, ob es nicht doch besser wäre zu heiraten. In der Liebe, in der Zweierbeziehung ist nichts logisch. Auch wenn der Mann im jugendlichen Überschwang meint, ihre Liebe sei gegen Trennung gefeit. Denn statt sich zu trennen, genüge es, miteinander vernünftig zu reden. „Nur Idioten denken, die Liebe sei kompliziert“, sagte er. Und sie schloss daraus, sie werden „das Liebespaar des Jahrhunderts“ sein. Eben weil sie wussten, wie idiotisch Trennungen seien. Was die beiden zusammenhält, ist die Unverbindlichkeit ihrer Beziehung. Heiraten – nicht nötig. Karriere ja, aber nicht immer auf gemeinsamem Weg. Das geht solange gut, bis Kinder kommen. Dann schlägt die Organisation des Alltags zu, und das Paar merkt nicht, wie die Distanz zwischen ihnen immer größer wird. Dazwischen immer wieder Rückblicke: „Wie glücklich ich war, wie schön wir es hatten!…Die Gegenwart, das waren du und ich!“ (S23)

Julia Schoch gelingt es, völlig abseits vom Klischee, über alle Formen der Liebe, des Vertrautseins, des inneren Auseinandergehens, des Wiederzueinanderkommens mit ungewissem Ausgang zu erzählen. In klarer, unverstellter Sprache ohne literarische Überfrachtung oder modische Erzählattitüden liegt hier eine intelligente Analyse der heutigen Gesellschaft, wie sie sich in der Familie manifestiert, vor.

Julia Schoch, Wild nach einem wilden Traum. Biographie einer Frau, 3. Teil

Nun also der 3. Teil dieser „Romanbiographie“ einer Frau. Ein wildes Cover, passend zu dem Titel, macht neugierig. – Und man legt den Band enttäuscht weg. Denn während des Lesens entsteht der Verdacht, dass die Autorin hier „Reste“ einsammelt. Da und dort liegen Gebliebenes, Zettel und verschwommene Gedanken, die sie in den beiden vorangegangenen Bänden schon mehrmals griffig ausformuliert hatte. Neu ist, dass die Icherzählerin sich eingesponnen fühlt zwischen drei Männern – dem sexbetonten und lebens- und schreibtüchtigen Catalanen. Mit ihm geht es schnell zur Sache, ins Bett. Warum ihr immer wieder die Erinnerung an einen ehemaligen DDR-Soldaten dazwischen kommt, lässt sich nicht aufschlüsseln. Und ach ja, da gibt es ihren Mann, nicht Ehemann, sondern nur Mann. Und unvermeidbar – die Schreibkrise. Sie hat sich in ein Schreibseminar eingeschrieben, mit der Absicht, ihre Dissertation zu beginnen. Doch das Thema interessiert sie nicht mehr. Schreiben will sie. Doch worüber? – Das ist das Thema und die unbeantwortete Frage des 3. Bandes.

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Zoe Schlanger, Die Lichtwandler. S. Fischer

Untertitel im Original: How the Unseen World of Plant Intelligence Offers a New Understanding of Life on Earth. Deutscher Untertitel: Wie Pflanzen uns das Leben schenken.

Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff

Zoe Schlanger ist Wissenschaftsjournalistin. Als sie es überdrüssig wurde, über den Klimawandel und die negativen Folgen zu schreiben, wandte sie sich dem Thema Pflanzen zu, insbesondere der bis heute umstrittenen Frage nach der Intelligenz der Pflanzen. Haben Pflanzen über die Wurzelspitzen ein „Gehirn“, ein „Pflanzenbewusstsein“? Wurden solche Fragen noch bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in die Esoterik verbannt, wagte man sich seit einigen Jahren Schritt für Schritt in der Pflanzenforschung voran. Es dauerte lange, bis diese „wissenschaftliche Revolution“ vorsichtig diskutiert wurde. „Jetzt befinden wir uns in der Phase des Übergangs“, schreibt Schlanger. „Die Wissenschaft geht dem Gedanken nach, dass Pflanzen intelligente Lebewesen seien, dass sie Informationen unterschiedlicher Art verarbeiten, um wohlinformierte Entscheidungen zu treffen.“(S82) Die Autorin stellt diese Erkenntnisse nicht einfach so in den Raum, sondern vertieft und untermauert sie in Einzelinterviews mit den bekanntesten Forschern auf diesem Gebiet, wie zum Beispiel Jagadish Bose oder Richard Karban. Dazwischen kann sich der Leser bei detailgenauen Beschreibungen von Pflanzen und ihrer Umgebung von der „trockenen Wissenschaft“ erholen. Zoe Schlanger erzählt auch von dem andauernden Kampf der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen um Fördergelder. Denn die allgemeine Skepsis diesen Fragen gegenüber ist noch nicht gänzlich ausgelöscht. Fest steht, dass Pflanzen elektrische Signale empfangen, verarbeiten und senden. dass sie Geräusche hören und als Information verarbeiten. „Die Pflanze überwacht sämtliche Teile ihres Körpers und prüft, wie gut sie funktionieren.“(211) Solche Gedanken verblüffen, überraschen. Und das ist erst der Anfang der Forschung.

Ein faszinierendes Buch, das völlig neue Denkräume eröffnet. Wir Menschen werden uns bald von dem Gedanken verabschieden müssen, dass wir die einzigen Wesen sind, die mit Intelligenz ausgestattet sind. Die Natur hat ihre eigene Intelligenz, sie zu verstehen wird noch lange dauern.

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Daniel Glattauer, In einem Zug. Dumont Buchverlag

Der für seine Liebesromane einst berühmte Autor Eduard Brünhofer hat eine Schreibkrise. Der Erfolg seines letzten (Liebes)Romans liegt Jahre zurück. Der gut dotierte Vorschuss auf das nächste Buch ist aufgebraucht. Nun sitzt ihm der Verlag im Nacken – er sollte längst schon liefern. Mit mehr als vagen Ideen und einer großen Schreibunlust reist er im Zug von Wien nach München zu dem gefürchteten Gespräch mit dem Verlag. Im Abteil schräg gegenüber sitzt eine Frau mittleren Alters, die bald ein Gespräch mit Brünhofer beginnt. „Gespräch“ ist zunächst der falsche Begriff, denn sie zieht ihm buchstäblich sein Privatleben aus der Nase. Sie nervt den Autor, der nur widerwillig antwortet, ihrer Pertinenz aber nicht entkommt. Der Widerwille überträgt sich auf den Leser, der ebenso verärgert wie der Autor bereit ist, das Gespräch zu beenden und das Buch wegzulegen. Denn mehr als banaler Small-Talk tut sich nicht.

Dann aber hat die nervige Catrin – inzwischen sind die beiden per Du – die Idee, in den Speisewagen zu gehen. Dort, bei einigen Flaschen Rotwein, lockert sich das Gespräch. Eduard redet über seine gelungene Ehe mit Gina und seinen Widerwillen, noch mehr über Frauen und über die Liebe zu schreiben. Er lebt glücklich und weiß, wie das mit der Liebe geht. (Ist es Zufall, dass sich zur Zeit mehrere Autoren mir der „Liebe“ und den Schwierigkeiten mit diesem Begriff befassen, wie etwa auch Julia Schoch in ihrem Roman „Das Liebespaar des Jahrhunderts“?)

Daniel Glattauer ist bekannt für seinen feinen Humor, mit dem er auch in diesem Buch aufwartet. Doch man hat den Eindruck, er beschreibt hier seine eigene Schreibkrise. Um sie zu bewältigen, schreibt er über einen Autor, der eine Schreibkrise hat. Das haben schon viele versucht, und selten noch ist daraus ein wirklich geglücktes Buch entstanden. Ob Eduard Brunhöfer seine Krise wird bewältigen können, sei hier nicht verraten.

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Clara Arnaud, Im Tal der Bärin. Roman im Kunstmann Verlag

Aus dem Französichen von Sophie Beese

Nach vielen Auslandsaufenthalten ließ sich Clara Arnaud in Conserans, einer Region in den Pyrenäen, nieder, wo sie den größten Teil des Jahres lebt.

Das Buch „Im Tal der Bärin“ ist ihr Erstlingswerk, dessen Hauptfigur eine Bärin ist. Gemeint ist aber der Bär als Gesamtbegriff für das Tier an sich. Denn in einer Art Semidokumentation, angereichert mit Fakten rund um das Tier, das einst – und jetzt wieder- die Wälder und Abhänge der REgion beherrschte, verflicht die Autorin die Schicksale der Bewohner der Region mit dem Schicksal einer einzelnen Bärin. Eingerahmt wird die Erzählung vom Schicksal des zehnjährigen Jules Piquemal, der in den Jahren um 1870 ein weibliches Bärenkind direkt aus der Höhle entführt und bei sich aufgezogen hatte. Am Ende des Romans wird Jules als versoffener und herabgekommener Bärenführer in einem New Yorker Hinterhof von eben dieser Bärin getötet. Zu lange hat sie das Martyrium der Dressur erlitten, Schmerzen hingenommen und für ihn getanzt. 1902 findet man seine zerfetzte Leiche, und die Bärin wird von Parkwächtern erschossen.

Diese Rahmenhandlung, halb Fiktion, halb Realität, dient der Autorin gleichsam als Argumentationsgrundlage, als Beweis für die Grundaussage des Romans: Der Mensch findet keinen ehrlichen und respektvollen Umgang mit der Natur, in diesem Fall mit den Bären, die in dieser Region immer schon gejagt wurden. In einem klug differenzierten Personenrepertoir zeigt sie verschiedene Sicht- und Handlungsweisen der Bewohner, ihre Gründe auf, warum sie so und nicht anders handeln wollen/können. Im Grunde geht es um das alte Dilemma und die schwer zu beantwortende Frage: Wieviel wilde, ungezähmte Natur darf bleiben, ab wann gefährden sich Mensch und Tier, in allzu intimer Nähe lebend, gegenseitig?. Wer darf angreifen, töten, wer muss sich zurückziehen?

Anna studiert das Leben der wildlebenen Tiere in diversen Regionen der Welt. Nun ist sie beauftragt worden, die Bärin zu beobachten, die in dieser Region den Schafen ans Fell geht. Ihr Forchungsauftrag heißt dokumentieren, nicht eingreifen. Gaspard ist aus der Stadt geflohen, weil er will, dass seine Kinder in freier Natur aufwachsen. Er lernt das schwere und oft gefährliche Handwerk des Schafhüters vom alten Marco, der ihm nicht nur seine Herde anvertraut, sondern ihn auch in die Gefahren und Schönheiten dieser Arbeit einweiht. Ausführlich, manchmal zu ausführlich und repetitiv schildert Clara Arnaud die Faszination dieser (noch wilden) Natur der Wälder, Almen und Berge. Als der Regen ausbleibt, die Weiden in der Mittellage austrocknen und Schafe und Hirte auf die Hochweiden ausweichen müssen, kommt es zum Showdown. Die Natur in der Gestalt der Bärin rächt sich, Anna sucht einen Ausgleich zwischen Tier und Mensch, doch vergeblich…

Clara Arnaud schildert das Leben der Dorfbewohner und der Hirten mit großer Sachkenntnis, so dass man manchmal den Eindruck gewinnt, ein Sachbuch zu lesen. Klar und deutlich steht am Ende die Ausweglosigkeit der Situation vor Augen: Wo haben die Bären noch ein sicheres Rückzugsgebiet? Bis wohin dürfen Menschen Natur und Terrain für sich beanspruchen? Gibt es eine „rote Linie“? Fragen, die heute überall in der Welt gestellt werden. Wie werden sie beantwortet werden?

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Sy Montgomery, Das Geschenk des Kolibris. Diognes Tapir

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Schäfer. Mit zahlreichen farbigen Illlustrationen von Lore Ruttan

Sy Montgomery ist den Lesern vor allem durch ihr Buch „Rendezvous mit einem Oktopus“ bekannt, in dem sie von der verblüffenden Intelligenz dieses Tieres erzählt. Mit „Das Geschenk des Kolibris“ begeistert sie die Leser für diese zartesten und doch mit Bärenkräften ausgestatteten Vögel. Schillernd in allen Farben, schwirren diese Geschöpfe mit unglaublicher Energie durch die Luft, kopfüber, im Retourgang, im Schraubflug – kurz sie sind die Kunstpiloten des Luftraumes. Leider ist ihr Überleben alles andere als gesichert.

„Dies ist die Geschichte einer Auferstehung….die Geschichte eines kleinen Wunders. Wie klein? Nicht viel größer als zwei Hummeln – denn so klein waren Zuni und Maya, zwei verwaiste Kolibriküken, als ich sie…zum ersten Mal sah“, schreibt die Autorin im Vorwort.

Als Sy Montgomery erfährt, dass ihre Freundin, die bekannte Vogelretterin Brenda Sherburn, zwei Kolibrikükeneier zur Rettung übernommen hat, beschließt sie, ihr bei diesem schwierigen Unterfangen zu helfen. Dabei lernt sie, welch ungeheure Anforderung solch ein Unterfangen stellt: Alle 20 Minuten müssen die Kleinen mit frischen Fruchtfliegen, angereichert mit Vitaminen und Ölen, mit großer Vorsicht gefüttert werden. Einmal die Fütterung vergessen kann fatale Folgen haben. Die Winzlinge gedeihen gut, bekommen ihr Federkleid und werden Maya und Zuni genannt. Eines Tages entdecken die beiden Vogelmütter hunderte Milben im Gefieder. Das kann tödlich werden. Als einzige Rettung bleibt, die Fruchtfliegen im Desinfektionsbad umzubringen. Das aber unter Lebensgefahr der Kolibris! Doch die beiden überstehen die Prozedur und können bald für die Freiheit vorbereitet werden. Sie werden zu „Wundern des Himmels“.

Ein Buch, das niemand kalt lässt. Man bekommt eine Ahnung von den Geheimnissen und Wundern der Natur, von dem wir Menschen nur einen winzigen Bruchteil erahnen können.

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Clemens Berger, Der Präsident. Residenz Verlag

Clemens Berger ist Schlawiner, Till Eulenspiegel und Don Quijote. In der ersten Hälfte des Romans unterhält er die Leser mit Witz, Ironie und tiefer Bedeutung, in der zweiten Hälfte überwiegt die tiefe Bedeutung, sprich der moralisch-sozialkritische Anspruch.

Julius Imre, geboren 9.11. 1926 in Oberwart (Burgenland), wandert als Kind mit seinen Eltern in die Staaten aus. Aus Julius Imre wird Jay Immer, weil der Name so leichter auszusprechen ist. Sein Vater schuftet als Maurer und baut die Häuser, in die später die Reichen einziehen werden. Seine Mutter putzt sie. Die Eltern erzählen ihm immer wieder von der Heimat, „doch was war das für eine Heimat, die erst in der Erinnerung dazu wurde?“ heißt es da ein wenig bitter (S22). Da Clemens Berger den Roman seinen Großeltern widmet, darf man vermuten, dass deren Biografie keine unwesentliche Rolle bei der Entstehung des Werkes spielte. Doch Bitternis ist nie die Sache des Autors und daher auch nicht die des Protagonisten.

Jay ist 55 Jahre alt und beschließt, sich nicht mehr länger als Polizist den Gefahren der Straße auszusetzen, und geht in Pension. Ehefrau Lucy hat hinter Jays Rücken die Bewerbung um den Job als Double des Präsidenten Ronald Reagan ( 1911-2004, Präsident 1981-89) eingeschickt – und Jay gewinnt ihn. Er sieht dem Präsident „wie aus dem Gesicht geschnitten“ ähnlich. Von einer Agentur gut bezahlt, beginnt für Jay und Lucy ein Leben in Scheinluxus und Clownerien. Er genießt es, wenn die Menschen ihn ehrfürchtig grüßen. Er spielt mit, wohin ihn auch immer die Agentur sendet. Zu den amüsantesten Szenen gehört sein Auftritt in Oberwart: Auf dem Parkplatz einer Tankstelle begeistert er die Massen, die ihm zujubeln, als er am Ende seiner Rede ausruft: „I bin a Ouwawoada“ ( S102f) Was dann folgt ist ein Foto- und Feierorgie mit seinen wiedergefundenen Verwandten. Doch irgendwann verwandelt sich der Clown Jay Immer alias Ronald Reagan in Don Quijote und kämpft mit Wissenschaftlern und Anhängern der Umweltbewegung für die Rettung der Welt. Der Autor ändert den Stil: In hektischer Abfolge treten neue Figuren auf, die Ereignisse überschlagen sich. Als auch noch ein Doppelgänger von Gorbatschow ins Spiel kommt, wird die Geduld des Lesers ein wenig strapaziert. Die Geschichte endet tieftraurig …

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Hans Rauscher, Worüber sich zu schreiben lohnt. Ecowing Verlag

Untertitel: Über die Demokratie: Erinnerungen, Gefahren und Hoffnungen

Hans Rauscher, Jahrgang 1944, hat über 50 Jahre Erfahrung im Journalismus, das politische Geschehen in Österreich immer kritisch miterlebt und in Medien wie Kurier, profil und Standard kommentiert. In diesem Buch zeigt er die Gefahren auf, in der sich die immer fragiler werdende Demokratie in Österreich (und anderen Ländern Europas) befindet. Mit einem scharfen Blick in die Vergangenheit Österreichs rollt er die Geschicke auf, schreibt von vielen persönlichen Begegnungen mit Politikern wie Kreisky, Taus, Busek, Vranitzky, rückt das Bild des oft belächelten Kanzlers Fred Sinowatz zurecht, schreibt über Haiders Charme eines Rattenfängers. Von Haider schließt er gedanklich auf zu Kurz und anderen „Feschaks“, die durch ihre Jugendlichkeit blendeten und weist klar und deutlich auf die Gefahren durch populistische Parteien hin, die querfeldein um sich greifen, weil die großen Parteien sich durch Selbstgefälligkeit und Machtgier selbst minimieren und zerstören.

Klare Worte hat er auch für die Frage der Migration, die zur Überlebensfrage der europäischen Kultur geworden ist. Und klagt die führenden Parteien und Medien an, dieses Problem zu lange klein geredet zu haben.

Ein Buch, das man nur jedem empfehlen kann, der sich für Politik, speziell für die österreichische Politik interessiert. Der klare und schlüssige Stil macht es zu einer angenehmen Lektüre, abseits von hochphilosophischen oder -wissenschaftlichen Thesen. Dem Leser sei aber auch empfohlen, nicht auf die innere Achtsamkeit und Kritik zu vergessen. Denn Rauscher kann in allen Punkten so überzeugend sein, dass man zu sehr ins bejahende Nicken gerät und auf die eigene Meinung, bzw. Erfahrung und Kritik leicht vergißt.

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Anne Taylor, Drei Tage im Juni

Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger

Wenn die Tochter heiratet, dann muss auch der Exmann zur Hochzeit anreisen. Aus diversen Gründen muss er bei der Exfrau wohnen. Dass das für beide Seiten nicht einfach ist, ist voraussehbar. Und dass die beiden nach jahrelanger Trennung am Ende doch wieder zusammenfinden, ist ebenfalls voraussehbar. Doch bis dahin durchlaufen sie subtile Gedankengänge und feinverästelte Veränderungen, die Anne Taylor mit Akribie – manchmal zu akribisch – erzählt. Etwas langatmig auch die Hochzeitsvorbereitungen und die Hochzeit selbst.

Wer etwas für derartige Familiengeschichten übrig hat, dem wird das Buch gefallen.

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Charles Lewinsky, Täuschend echt. Diogenes

Das ist wieder ein Lewinsky, wie man ihn kennt und mag! Witzig, kritisch (aber nur undercover), mit einem flotter Erzählstrang, der den Leser bei der Stange hält.

Ein Werbetexter für Müsli wird gekündigt. Gleichzeitig verlässt ihn seine Kurzzeitgeliebte, nimmt Geld und Bankomatkarte mit und verschwindet auf NImmerwiedersehen!. Hinterlassen hat sie ihm nur eine elendlange Natter im Terrarium. Keine gute Aussichten für den Ich-Erzähler!. Lewinsky schüttet seine ganze Humorpower über das arme, bedauernswerte Ich. Aber nur Verzweiflung ist nicht Leweinskys Sache und schon gar nicht die seines Protagonisten.

Um seinen Frust einigermaßen in den Griff zu bekommen, beschließt das bedauernswerte Ich einen Roman zu schreiben. Über eine Frau…Für Name, Figur und alles andere posiert die Exfreundin. Schon am Anfang scheitert er und sucht Hilfe in der KI ! Im Laufe des Schreibens erkennt er, wie bequem das ist. Suchbegriff eingeben, und schon legt Katarina, wie er sie nennt, los. Gar nicht schlecht, findet er. Bald gibt es auch einen reichen Sponsor für sein noch nicht geschriebenes Buch: Er soll sich die Geschichte eines Menschen anhören und in einen möglichst authentischen Text gießen. Gesagt – schnell geschrieben mit Hilfe der Katarina. Das Buch wird ein toller Erfolg – aber so einfach und kitschbehaftet geht es bei Lewinsky nie zu – nach Erscheinen des Buches beginnen erst richtig die Schwierigkeiten.

Eine amüsante, kluge Geschichte. Man nimmt am Entstehungsprozess des Schreibens mit Hilfe der KI teil – und kommt nicht darum herum festzustellen, ähnliche Texte schon in Büchern bekannter Vielschreiber so oder so ähnlich gelesen zu haben. Es beschleicht den Leser der Verdacht, dass viele bekannte Autoren, die ihre dicken Bücher mit endlosen Beschreibungen aufpeppen, sich der KI bedienen. Denn wie kann es sonst sein, dass von Autor X jedes Jahr ein dickes! Buch erscheint, das den Leser mit klischeehaften Beschreibungen fadisiert!? Lewinskys Roman ist amüsant, erhellend, witzig, ganz ohne Erziehungstendenzen à la „Achtung vor KI“!

www.diogenes.ch

Wolfram Ellenberger, Geister der Gegenwart. Verlag Klett-Cotta

Untertitel: Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung. 1948 -1984

1948 war ein trostloses Jahr. Der Nationalsozialismus hatte fast alle Künstler und Philsophen ins Exil getrieben. Nur zögernd kamen einige zurück und mussten frustriert feststellen: In den Köpfen vieler Menschen nistet noch immer die alte Ideologie. Wolfram Ellenberger versucht einigermaßen einen Überblick über diese 40 schwierigen Jahre zu geben. Er konzentriert sich auf die aus seiner Sicht wichtigsten Philosophen dieser Zeit: Theodor W. Adorno, Paul K. Feyerabend, Susan Sontag, Hannah Arendt und Michel Foucault. Die ersten Nachkriegsjahre sind enttäuschend. Hannah Arendt ist von dem völlig zerstörten Deutschland geschockt. Viele stehen vor dem Nichts, auch die Philosophie. Mit dem Wiederaufbau wird aus der Philosophie die Lehre vom guten Leben. Und von Restituierung ist noch lange keine Rede.

In Amerika entdeckt Susan Sontag die Bisexualität. Das klingt jetzt banal – aber für Amerika war das ein „no go“. In Frankreich werden Jean Paul Sartre und Simone de Bouvoir gefeiert, bald aber als Hausgebrauchsphilosophen desavouiert. Existentialismus ist die neue Denkrichtung .Freiheit bis zum sebstgewählten Tod – Simone Weil begeht Selbstmord durch Hungern. Trotz Stalin bleibt der Kommunismus ein schickes Denkmodell.

In den späten 60er Jahren konzentriert sich der Autor auf einander konkurrierende Philosophen Paul K. Feyerabend und Michel Foucauld. Mit leichter Ironie beleuchtet er beider Erfolge und Misserfolge während der Studentenrevolten 1968. In Deutschland beherrschen Habermas und Adorno die Denkbühne. Adorno gibt sich geschlagen und verlässt die Revoltenbühne. Und Wien? An der Universität haben noch immer Professoren das Sagen, die sich vom Nationalsozialismus nicht verabschieden wollten und konnten. Studentenrevolution? Kaum, die Straße bleibt ruhig. Nur in der Aula gibt es einen Fäkalienskandal.

Als nicht philosophisch geschulter Leser ist man oft überfordert. Aber unter dem Strich vermittelt Wolfram Ellenberger den Eindruck, dass die „neue Aufklärung“ auf sich warten lässt.

www.klett-cotta.de

Fabian Burstein: Empowerment Kultur. Edition Atelier

Untertitel: Was Kultur braucht, um in Zeiten von Shitstorms, Krisen und Skandalen zu bestehen.

Ja, was braucht die Kultur? Diskurse! Transparenz! Und das beginnt in der Politik, dort, wo die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Oft sind es keine Weichen, sondern Leichen. Es werden Direktoren und in letzter Zeit vor allem Diktorinnen für Theater, Museen etc bestellt. ohne dass vorher ein öffentlicher Diskurs darüber eingeleitet wurde.

Obwohl Fabian Burstein die letzten zehn Jahre vorwiegend in Deutschlands Kulturszene gearbeitet hat, kennt er als gebürtiger Wiener die österreichische Szene sehr gut und beobachtet sie kritisch. Einige seiner Forderungen sind nicht neu, wie etwa Kommunikation innerhalb divergierender Fronten, strenge Kontrolle der Hasspostings. Was er in Österreich zu Recht moniert, ist die Bestellung fachlich inkompetenter Leiter und Leiterinnen in wichtigen Kultursegmenten. (S 51f) „Die Skandalgeschichte der österreichischen Kulturbetreuung ist erschreckend“ (S74) Explizit stellt Fabian Burstein die Qualifikation der sogenannten Begutachtungskommissionen in Frage (76) und fragt, wo die fachkundigen Kontrollinstanzen wären. (ebda) Vor allem der von der SPÖ geführte Kulturbetreuung der Stadt Wien (Kaup -Hasler) wirft er mangelnde Transparenz vor. Und legt dar, wie wichtige Entscheidungen an SPÖ nahe Beratungsfirmen ausgelagert werden. Das ist in allen Parteien und auf allen Gebieten so üblich geworden. Zuletzt vermisst er mutige Medien, die diese Unklarheiten aufdecken.

Ein wichtiges Buch für alle, die sich schon immer fragen, wie es zu diversen Bestellungen auf dem Kuultursektor kommt

www.editionatelier.at.

Marco Bolzano, Café Royal. Diogenes Verlag

Aus dem Italienischen von Peter Klöss

Marco Bolzano ist bekannt für seine sozialkritischen Themen wie zum Beispiel „Wenn ich wiederkomme“. Darin schreibt er über die Frauen aus Osteuropa, die sich als schlecht bezahlte Pflegerinnen in Italien und anderen europäischen Staaten verdingen. Nun ist sein jüngstes Buch eher leichte Kost, wirkt wie eine Themenrestlverwertung aus der Pandemiezeit. Die Via Marghera in Mailand ist zu Normalzeiten eine belebte Einkaufstraße. Doch Covid hat sie leergefegt – keine Geschäfte, keine Cafés. Nur das Café Royal hat geöffnet. Hier treffen sich Paare oder Einzelgänger, um menschliche Gesellschaft aufzutanken. Trotz Pandemie ist das Café immer gut besucht. Schnell ergeben sich Gespräche, sogar neue Kontakte, aus denen hin und wieder auch engeren Beziehungen entstehen. Das Flüchtige ist jedoch am reizvollsten. Jede einzelne Geschichte würde für einen Roman reichen. Idealer Lesestoff für unterwegs-

www.diogenes.ch

Aus dem italienischen neu übersetzt von Ingrid Ickler

Der Originaltitel „La Vacanza“ gibt besser wieder, was Dacia Maraini in diesem Roman vermitteln will: In „Vacanza“ steckt das lateinische Wort „vacuum“ – das Leere. Vacanze-Ferien – bedeuten für Italiener in erster Linie Ferien am Meer, auch frei sein von Verpflichtungen – aber immer schwingt der Gedanke an Langeweile, Leere mit.

Nicht immer ist Langeweile positiv. Jedenfalls nicht für die vierzehnjährige Anna und ihren um einige Jahre jüngeren Bruder Giovanni. Das Jahr über sind sie im Internat, von strengen Schwestern mit Argusaugen bewacht. Dann endlich kommt der Tag, an dem sie ihr lebenslustiger Vater auf seinem Motorrad abholt und in das Haus am Meer bringt, wo sie Nina erwartet, die die verstorbene Mutter ersetzen soll. Was nicht so recht klappt. Denn mehr als die Pasta ihnen vorzusetzen schafft sie nicht. Meist ist sie müde. Also verbringen Anna und Giovanni die Tage am Strand. Es ist Krieg, die Flugzeuge fliegen Richtung Rom. Mussolini ist am Ruder. Anna langweilt sich. Aus Langeweile lässt sie sich von einem alten Lustmolch einladen, lässt sich emotionslos von ihm betatschen und steckt ebenso emotionslos Geld dafür ein. Sie registriert alles um sich herum, nimmt es mit fast fotografischer Genauigkeit wahr – bleibt aber von allem unberührt. Sie lässt sich ebenso emotionslos von pubertierenden Buben betatschen, – nichts kommt wirklich an sie heran. Nina und ihrem Vater gegenüber bleibt sie verschlossen. in Beobachterposition. Mit kalten und kritischen Augen betrachtet Anna die Erwachsenen, weiß ihre Lügen zu entlarven, bleibt aber immer unbeteiligt. Als die Ferien enden, kehren Anna und Giovanni wieder ins Internat zurück . Alles so wie es war.

Dacia Maraini schildert mit erschreckender Nüchternheit und fast zwanghaftem Hang zur Genauigkeit die sich täglich wiederholdenden Abläufe dieser leeren Tage der Ferien. Krieg ist bedeutet maximal Gesprächsthema. Die Angst davor wird kleingehalten, man spricht sie nicht aus, findet Ruhe im endlosen Kartenspiel .

Erschreckend ist die Kälte, die von diesem Roman ausgeht!

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Nemonte Nenquimo und Mitch Anderson: Tochter des Regenwaldes. Heyne Verlag

Untertitel: Meine Wurzeln, mein Volk und unser Kampf gegen die Zerstörung unserer Heimat

Aus dem amerikaneischen Englisch von Elisabeth Schmalen und Katherina Uhlig.

Nemonte Nenquimo wird in den Stamm der Waorani im Regenwald Ecuadors hineingeboren und lebt eine glückliche Kindheit inmitten ihrer Großfamilie und den Stammesältesten. Doch die Missionare haben bereits Fuß gefaßt, die ersten Flugzeuge landen – Vorboten und Wegbereiter der Ölgesellschaften, die rigoros den Boden der einzelnen Stämme plündern, die Wälder abholzen und die Indigenen total entrechten.

Schmerzhaft ist dieses Buch zu lesen, aber auch tröstlich. Nemonte verlässt in jungen Jahren ihren Stamm, zunächst geblendet vom Einfluss der Missionare. Bald erkennt sie jedoch, dass dieser Gott der Weißen nie ihrer sein wird und sie wendet sich von der so genannten Kultur der WEißen ab, Gemeinsam mit dem Weißen Mitch Anderson und ihrem Bruder Opi beginnt sie Widerstand gegen die Zerstörung des Regenwaldes und ihrer Kultur zu organisieren.Mit einigen anderen Stämmen gründen sie einen Verein, und mit Hilfe der Medien gewinnen sie Sponsoren, werden bekannt. Und es gelingt ihnen, die Rechte für die Indigenen vor Gericht zu erkämpfen. Nemonte führt heute mit ihrem Ehemann Mitch und den beiden Kindern ein friedliches Leben inmitten ihres Stammes . Und das ist tröstlich zu wissen.

Dieses Buch ist eines der wichtigsten, die im letzten Jahr erschienen sind. Denn wir erfahren aus authentischer Quelle viel über Rituale und Glauben der Stämme des Regenwaldes. Interessantes über ihr Verhältnis zur Natur, die sie respektvoll verehren und nie plündern oder zerstören. Auch über Träume und ihre Bedeutungen, über Schamanen und ihre Kräfte spricht Nemonte direkt und offen in diesem Buch. Und vor allem wird dem Leser schmerzvoll deutlich vor Augen geführt, was Ölkonzerne, Missionare und ganz allgemein die weiße Zivilisation im Regenwald anrichtet. Und letztlich und am wichtigsten: Es gibt Möglichkeiten, sich gegen Zerstörung und Plünderung zu wehren!!

Zitat (S 225): „Ich hatte den Wald vor vielen Jahren verlassen, weil ich an die Weißen glaubte. Ich hatte ihnen vertraut, gedacht, sie seien besser als wir…Aber inzwischen wusste ich, dass sie keine Grenzen kannten, dass sie alles wollten….unsere Geschichten verändern und unser Land stehlen. Die Bohranlagen kamen unaufhaltsam näher..“

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Brigitte Riebe, Eifelfrauen. Band 1: Das Haus der Füchsin. Band 2: Der Ruf der Nachtigall. Wunderlich Verlag bei Rowohlt

Bis zu ihrem 21. Lebensjahr ist Johanna in der Fabrikantenfamilie Fuchs in Trier verwöhnt und in großbürgerlichem Luxus aufgewachsen. Am Tag ihrer Volljährigkeit erbt sie Haus, Hof und Garten einer Tante Lisbeth, von der sie noch nie etwas gehört hat. Zur Verwunderung aller nimmt sie das Erbe an und zieht in das (fiktive) Dorf Altenburg in der Eifel. Sie lernt Ziegen melken, Holz schneiden, Feuer machen, Garten und Blumen pflegen und – sie liebt dieses Leben immer mehr. Es verlangt von ihr Mut und Selbständigkeit. Als sie erfährt, dass sie die Tochter dieser geheimnisvollen Lisbeth, die von ihrer (ehemaligen) Familie verbannt und totgeschwiegen wurde, ist, sagt sie sich rigoros von ihrer ehemaligen Familie los und lebt nun als Tochter von Lisbeth.

Nach dem Ersten Weltkrieg sind die Zeiten in Deutschland hart, Inflation, Arbeitslosigkeit und Hungersnot herrschen überall. Die Autorin verflicht geschickt Historie und Fiktion – so erfahren wir, wie der Hass zwischen Deutschen und Franzosen das Zusammenleben erschwert, vom Aufstieg des Nationalsozialismus und vom geheimnisvollen Kampf der Separatisten, die in der Eifel einen unabhängigen Staat gründen wollen. Lisbeth wird von einem Franzosen schwanger, der jedoch von einem Franzosenhasser ermordet wird, bevor sein Kind Klara geboren wurde. Als sie auch noch Mia,das Kind einer Freundin, die bei der Geburt stirbt, aufnimmt, kämpft sie hart und unverdrossen ums Überleben. Trost findet sie in ihrer Kunst: sie töpfert und malt Szenen aus ihrem Umfeld und der Natur Die Füchsin, die in Vollmondnächten durch den Garten streift – daher der Titel – inspiriert sie ganz besonders.

Klara und Mia wachsen zusammen wie Geschwister auf. Deren Leben füllt die Seiten des 2. Bandes, der leider nicht so dicht und spannend wie der erste ist. Denn zu viele Figuren bevölkern die Szene und man verliert leicht den Überblick. Klara wird eine bekannte Opernsängerin und Mia eine tüchtige Gutshofbesitzerin.

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Andrea de Carlo, Das Meer der Wahrheit. Diogenes Verlag

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Wieder reitet Andrea de Carlo sein Lieblingsthema: die verkommene italienische Gesellschaft der Nichtstuer, Reichen, Politiker. Ähnlich wie in „Wenn der Wind sich dreht“ demaskiert er sie alle, wie sie am Handy kleben, am Image, an Äußerlichkeiten. Die Karriere ist alles, dafür werden – wenn notwendig – auch Menschen ermordet. Natürlich lässt man morden, alles bleibt unter der Decke des Schweigens.

Lorenzo ist ein Aussteiger, lebt in den Bergen. Die Familie, besonders Bruder Fabio und dessen Frau Nicoletta sind ihm so was von fremd. Bis er eines Tages nach Rom muss, weil der Vater, ein bekannter Virologe, gestorben ist. Zwischen Lorenzo und Fabio bricht die alte Unversöhnlichkeit auf. Fabio ist ehrgeiziger Politiker, Nicoletta ebenso ehrgeizige Politikergattin. Der Sohn ein unerzogenes Ungetüm. Loenzo macht beim Begräbnis des Vaters die Bekanntschaft mit der jungen, geheimnisvollen Mette . Bald auch mit deren Freund Jorge. Beide suchen nach einem brandgefährlichen Dokument, das im Besitz Lorenzos Vater sein soll. Es geht um die Einstellung der katholischen Kirche zur Empfängnisverhütung und gleichgeschlechtlicher Liebe. Es sollte bei einem Kongress öffentlich vorgelesen werden. Lorenzo schließt sich den beiden an, hilft bei der Suche. Doch das Dokument bleibt verschwunden. …Leider triftet die Story in eine Liebesgeschichte ab. Spannender wäre gewesen, mehr über eventuelle Folgen einer Veröffentlichung zu erfahren. Doch wie immer – interessant und flott gechrieben.

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Charles Lewinsky, Melnitz. Diogenes Verlag

Lewinsky, wie immer geschichtlich bestens informiert und ein eifriger Recherchierer. schildert in diesem fast tausend Seiten langen Roman die Geschichte einer jüdischen Familie. In fünf Generationen beschreibt er, 1871 beginnend, das Schicksal der Meijers bis 1945. Immer wenn die Geschichte eine bedrohliche WEndung nimmt, erscheint „Onkel Melnitz“ als Warner. Den Meijers geht es darum, „echte“ Schweizer Bürger mit allen Rechten und voller Anerkennung zu werden. So wird der schlaue Janki Tuchhändler, ein anderer Arzt, aber das Hindernis können sie nicht überwinden, das Hindernis heißt: jüdische Abstammung. Der Antisemitismus hat sich auch in der so liberalen Schweiz nicht ausrotten lassen, so Charles Lewinskys Meinung.

Im Stil knüpft Lewinsky an große Erzählklassiker an. Man fühlt sich beim Lesen an Gottfried Keller, auch an Goethe oder bisweilen an Stifter erinnert. Lewinsky ist in diesem Roman ein Mahner, allerdings ohne warnend erhobenen Zeigefinger. Er erzählt auch den Schrecken mit Humor, das ist seine Stärke. Die Frage ist allerdings: Wie viele Leser gibt es, die Zeit und Geduld aufbringen und sich tausend Seiten „hineinziehen“?

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Romy Fölck, Das Licht in den Birken. Wunderlich im Rowohlt Verlag

Ein wunderbarer, leichter Sommerroman:. Benno führt den großen Erbhof seiner Eltern in der Lüneburger Haide als „Lebenshof“ für alte und kranke Tiere, wo sie in Ruhe ihren Lebensabend genießen können. Leider hat sich im Laufe der Jahre ein riesiger Schuldenberg angehäuft und es droht Zwangsräumung oder Verkauf. Obwohl Benno ein Einsamkeit liebender Brummbär ist, entschließt er sich, das Nachbarhaus zu vermieten. Als Mieterin schneit Thea herein. Sie kommt in einem alten Camper und mit zwei Ziegen aus Portugal angereist und wirbelt nun das Leben Bennos ordentlich durcheinander, was ihm zunächst so gar nicht recht ist. Doch durch ihre fröhliche und hilfbereite Art gewinnt sie ihn bald für sich, und miteiander kämpfen sie um den Erhalt des Hofes. Zu dem Duo gesellt sich die im Wald gestrandete Juli zu. Sie hat sich beim Wandern den Fuß verletzt und muss, darf und will gerne bleiben. Dass sie sich dann auch noch in Hannes, den strammen Helfer, verliebt, ist ein weiterer Grund für sie zu bleiben. Die Schulden sind riesig, und es scheint, dass alle Bemühungen nicht fruchten. Bis Juli die zündende Idee hat……

Ein liebenswerter Roman über Menschen, die sich begeistert für ein an sich aussichtsloses Projekt engagieren. Die Birkenlandschaft des Moors und der nahe Wald bieten den romantischen Rahmen. Liebevoll beschreibt die Autorin die Tiere, die mit den Menschen im vertraulichen Umgang leben. Ein Roman fürs Herz!

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Bernhard Schlink, Das späte Leben. Diogenes

Martin bekommt die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er hat nur mehr drei Monate zu leben. Als er mit seiner um Jahrzehnte jüngeren Frau darüber redet, reagieren beide vernünftig – der Leser meint: Vielleicht etwas zu vernünftig, unglaublich gelassen. Ulla ist Malerin und hat ihr eigenes Atelier. Martin ist Professor in Ruhestand. Beide lieben ihren kleinen Sohn David sehr. Wie es ihm beibringen? Er geht noch in den Kindergarten. Sie beschließen zunächst, an dem Alltagsleben nichts zu verändern. Martin überlegt nun, was seinem Sohn im späteren Leben wichtig wäre zu wissen, und verfasst Briefe an ihn, die ihm als Lebensratgeber behilflich sein könnten. Als Ulla sie findet, meint sie, die seien zu kompliziert und abgehoben.
Martin unternimmt mit David Wanderungen, zeigt ihm die Schönheiten der Natur. Freut sich über die kleinen und großen Fortschritte, die David macht. Ulla indes ist eine neue Beziehung eingegangen, die Martin bald entdeckt. Er beschließt aber, seine Eifersucht nicht hochkochen zu lassen, sondern weiterhin Ulla seine große Liebe zu zeigen. Was scheinbar so leicht zu bewältigen war, entwickelt sich zu einer Schwere. Wie miteinander umgehen? „Es galt behutsam über das dünne Eis zu gehen“ (S 163)
Der Autor erspürt diese Behutsamkeit in der Sprache. Es gelingt ihm, jedes Wort, Geste und Blick aus dem Alltag herauszuheben und sie vor den Prüfstein der Endlichkeit zu stellen. Weder Ulla noch Martin brechen in Tränen der Verzweiflung aus. Als Martin seiner Frau gesteht, von dem „anderen“ zu wissen, beschließen sie, total ehrlich zueiander zu sein und die letzten Wochen mit David an der Ostsee zu verbringen, bevor die Schmerzen Martin zwingen, sich in ein Hospiz einweisen zu lassen. „Das reine Glück waren die Minuten, in denen Ulla sich neben dem Liegestuhl in den Sand setzte und ihren Kopf an seinen lehnte. …Es war kühl, David brachte noch eine Decke, Ulla legte sie über ihn, und sie warteten, bis die Sonne ins Meer sank“ (S240) Ende. Da darf sich der Leser, zufrieden über „das sanfte, poetische“ Ende, zurücklehnen und sich weiter keine Gedanken machen. Oder doch? Vielleicht fragt sich der eine oder andere, ob dieser Roman nicht doch Schönmalerei ist. Wie wäre das Ende ohne die verständige und sanfte Begleitung von Frau und Sohn? Wie für einen Menschen, der mit dieser Diagnose ganz allein fertig werden muss? Das Buch berührt, wie alle Werke Schlinks, doch am Ende sagt man sich: Schön wärs, wenns so käme…
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Anne Pauly, Bevor ich es vergesse. Luchterhand Verlag

Aus dem Französichen von Amelie Thoma

„An dem Abend, als mein Vater starb, fanden mein Bruder und ich uns im Auto wieder, weil es spät war und….weil es nichts anderes mehr zu tun gab als heimzufahren.“ So nüchtern beginnt die Geschichte, die ein „Roman“ genannt wird, die aber so nahe an der Icherzählerin dran ist, dass man annehmen darf, die Autorin erzählt ihre eigene Vater-Tochtergeschichte. Ob autobiographisch oder Fiktion oder eine Mischung – das Buch lässt einem so leicht nicht los.

Bruder und Schwester scheinen „es“ ganz gut zu verkraften. Sie räumen zunächst den Schrank im Krankenhaus leer. Es schockt, wenn die Autorin nüchtern die Dinge aufzählt, wie die Beinprothese, die Unterhosen, das Taschenkruzifix. Dinge, die dem Vater gehörten, in die Hand genommen, entwickeln ihre Tücke, ihr Eigenleben und daraus resultierende Erinnerungen. Der Bruder kapselt sich ab, lässt der Schwester die Organisation des Begräbnisses über und fährt danach gleich ab. Sie wird ohne ihn das Haus, in dem ihr Vater allein gelebt hatte, ausräumen. Und mit den Dingen und den Erinenrungen kommen die Trauer und die Tränen. Immer mehr rückt die Figur des Vaters ihr näher. Gute Erinnerungen überdecken die Tatsachen, wie etwa den durch Alkoholismus hervorgerufenen Jähzorn. Liebe und Herzenswärme zeichnen letztendlich die tief berührende Beziehung zwischen Tochter und Vater. Ein Herzensbuch im besten Sinn des Wortes, das zu Recht mit dem französischen Publikumspreis als „Bestes Buch des Jahres“ ausgezeichnet wurde!

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Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur

Kompliment an den Autor! Er hat mit äußerster Akribie Archive und jede nur mögliche Art der Überlieferungen – mündliche und schriftliche – durchgeackert. Daraus wurde ein Art Tagebuch aus der Zeit vom Mai 1940 bis Oktober 1941. Diese Zeit war geprägt von Angst, Naziterror und Flüchtlingsströmen quer durch Europa. Nicht nur Juden, sondern auch Künstler, Intellektuelle verließen ihre Heimat und suchten außerhalb von Deutschland und den von Hitlertruppen besetzten Gebieten eine Bleibe. Bald waren die Grenzen der Schweiz dicht und die Flüchtlichge suchten in Frankreich, vor allem in Paris, Zuflucht. Doch als die Deutschen in Frankreich einmarschierten und Paris besetzten, wohin dann? Viele schlugen sich bis in den Süden Frankreichs durch, doch das war nur eine kurzfristige Lösung.

Die Existenz vieler war gefährdet. Wer noch genügend Geld hatte, um sich ein Schiffsticket in die USA zu kaufen, der entkam dem Horror. Die meisten Künstler und Intellektuelle jedoch blieben in Marseille und Umgebung hilf- und ratlos hängen, täglich von der Gefahr, geschnappt und in ein Lager gesperrt zu werden , bedroht.

In dieser Situration ergreift ein Mann namens Varian Fry mit Freunden die Initiative: Sie gründen in einem New Yorker Hotel das “ Emergency Rescue Committee“ (ERC). Sie sammeln Geld und erstellen eine Liste von namhaften Intellektuellen und Künstlern, deren Leben bedroht ist. Diese zu retten, wird Fry nach Mareille losgeschickt. Er ist kein Abenteurer, aber mutig und entschlossen. Interessant ist, wie unterschiedlich Wittstock die Initiative der Rettungsaktion schildert. Bei anderen Autoren – u.a. Herbert Lackner – ist es Thoma Mann, der schon längere Zeit in den Staaten lebt, die Initiative ergreift und Fry mit der Liste losschickt.

Was nun folgt, ist eine genaue Schilderung all der Schwierigkeiten, Erfolge und Rückschläge, die Varian Fry in Marseille durchmachen muss. Er findet Helfer – unter anderem einen gewissen Charles Fawcett. Er ist ein richtiger Draufgänger , sportlich und unerschrocken. Viele Prominente, unter anderem Alma Mahler und Franz WErfel, führt er über auf versteckten Pfaden über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal. Nicht allen gelingt die Flucht, aber vielen. Unermüdlich arbeitet Fry, sucht Unterkünfte, neue Fluchtwege, organisiert (gefälschte) Papiere. Bis er am 1. November 1941 gegen seinen Wunsch weiterzuarbeiten vom ERC zurück nach New York „beordert“ wird.

Obwohl er mit fast unmenschlicher Anstrengung weit mehr als 200 Flüchtlingen das Leben gerettet hatte. wird ihm in New York kein guter Empfang bereitet. Sein Name und sein Wirken gerät bald in Vergessenheit. Erst 1994 wurde ihm von Yad Vashem der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen. Wittstock schrieb mit diesem Buch nicht nur die Geschichte eines Mutigen, sondern erzählt interessant und spannend die Schicksale vieler, wie z.B. Hannah Arendt, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Walter Mehrung, Werfel und Alma Mahler-Werfel.

Ein wichtiges Buch, gut geschrieben, gut recherchiert, ohne dass die Recherchen das Lesen belasten. Einige interessante Originalfotos.

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Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Mit einem Nacwort von Elke Heidenreich,

Die Autobiographie einer Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts, geschrieben unter dem Deckmantel eines „Romans“. Sibilla Aleramos (1976-1960) Roman erschien 1906 und erregte in ganz Europa großes Aufsehen. Sie gilt als Wegbereiterin des Feminismus in Italien.

Die Icherzählerin Rina verlebt ihre Kindheit in Mailand, ist der Liebling ihres Vaters, den sie vergöttert. „Die Liebe zu meinem Vater beherrschte mich“, gesteht sie gleich zu Beginn. Er wiederum schätzt ihre schnelle Auffassungsgabe und Intelligenz. Emotional ist er jedoch sehr distanziert. Von ihrer Mutter, die unter Depressionen leidet, erfährt sie auch keine Liebe. Als sie 12 Jahre alt ist, wird der Vater in den Süden in ein kleines Dorf versetzt, wo er die Leitung einer Glasfabrik übernimmt. Die 12jährige Rina sucht sich in der neuen Umgebung vergeblich zurechtzufinden. Noch sehr jung beginnt sie in der Fabrik mitzuarbeiten und erweist sich als sehr tüchtig. Aber ihren Vater als Ansprechpartner verliert sie immer mehr. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie glaubt, in einen attraktiven Angestellten verliebt zu sein. Als er sie vergewaltigt, muss geheiratet werden. Da ist sie gerade 17 und steht nun unter der Knute dieses Mannes. Ihre Befreiungsversuche , wie Krankheit oder Streit, enden immer mit Bestrafung Aus Eifersucht verbietet er ihr sämtliche Kontakte zu Menschen, die ihr lieb sind. Isolation und Depression scheinen ihr Schicksal zu sein, ähnlich dem ihrer Mutter. Immer wieder sagt sie sich, sie wird weggehen. Nach zehn Jahren Ehegefängnis hat sie endlich die Kraft, sich zu trennen. Allerdings verliert sie ihren Sohn, der beim Vater leben muss. An diesem Tiefpunkt ihres Lebens endet der Roman.

Sibille Aleramo hält sich mit Zeitungsartikeln finanziel über Wasser. Sehr bald schon hat sie Zutritt zu literarischen Kreisen, ihre Meinung wird allgemein anerkannt. Um effektiver für die Rechte der Frauen kämpfen zu können, tritt sie in die Kommunistische Partei ein. Sie stirbt 1960 mit 83 Jahren. Heute gelten ihr Roman und ihre Schriften als frühes Zeugnis für die Emanzipation einer Frau, der lange Zeit der Begriff selbst noch unbekannt war. Leider strapazieren die immer wiederkehrenden vergeblichen Fluchtgedanken ein wenig die Geduld des Lesers. Man möchte ihr zurufen: Jetzt verlass endlich den Kerl. Aber in diesen Zeiten des anbrechenden Jahrhunderts war eine Trennung schier unmöglich. Da gehörte eine gehörige Portion Kraft dazu, die sie dann endlich unter viel Schmerzen aufbrachte.

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Luca Ventura: Bleich wie der Mond – Capri-Krimi. Diogenes Verlag

Luca Ventura nützt die Krimischiene geschickt, um auf ein brennendes Problem aufmerksam zu machen. Diesmal geht es um die Mozzarellaherstellung aus Büffelmilch. Werden die Tiere artgerecht gehalten? Wie agieren die Tierschützer?

Nino Castaldo liegt tot in einer Tonne voll Wasser. Er stellte in Anacapri den berühmten handgezogenen Mozzarlla her. Inspektor Enrico Rizzi und die Ermittlerin Antonia Cirillo sollen den Fall aufklären. Keine leichte Aufgabe – Rizzi geht die Untersuchung sachte an, Cirillo prescht vor und bringt sich und die Ermittlung immer wieder in Gefahr. Der Kreis der Verdächtigen wird immer größer, besonders verdächtig sind Mitarbeiter der Firma Castaldos und die Familienmitglieder. Bald sind fast alle Personen verdächtig, auch der Produzent der Büffelmilch. Cirillo schnüffelt auf seiner Farm und bringt sich dabei selbst in Gefahr. Doch hier gibt es keinen Verdachtsgrund – die Tiere werden artgerecht gehalten. Aber die Familie ist unter sich zerstritten. Auf der Suche nach dem Mörder streift Rizzi durch sein geliebtes Capri, sieht die Faraglionifelsen im Mondlicht, schwärmt von seine Pfirsichen und kennt natürlich alle Bewohner der Insel. Geschickt beschreibt der Autor die Schönheit der Insel, nicht ohne auch auf die Gefahr des Massentourismus hinzuweisen. Der/die Mörder -in bleibt bis zum Schluss ein Geheimnis. Die Lösung: Es könnte jeder der zig Verdächtigen gewesen sein, …

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Untertitel: Wie wir noch mehr Natur in unser Leben bringen

Christo Förster ist ein absoluter Freiluftfreak. Er wandert quer durch Europa nur mit Schlafsack und Rucksack und übernachtet so gut wie immer im Freien. Er geht in Japan Eisbaden und macht auch sonst noch so einige Verrücktheiten. So mancher mittelsportlich engagierter Normalbürger mag das alles ein wenig übertrieben finden und er fragt sich, wozu er dieses Buch lesen soll. Natürlich hat Förster auch für uns Normalos ein paar Tipps, wie etwa das Morgenlicht und die Sonne – so sie scheint – etwa 20 Minuten einatmen und genießen. Für Morgenmuffel ein Nogo. Doch auch die Abendmenschen schickt er hinaus, um den Abendhimmel für 20 Minuten zu betrachten. Dabei geht es ihm um medidatives Betrachten, das zur inneren Ruhe führt. – Ehrlich, auch das will gelernt sein, gibt Förster zu. Man müsse dafür nicht gleich Seminare belegen. Mit der Zeit ergibt sich der Effekt, um man kommt zur Ruhe.

Jeden Tag empfiehlt er zwei Stunden irgendwo im Freien zu verbringen. Geht nicht -gibts nicht! Dann halt mit Leptop und in Balkonien!!

All seine Tipps faßt er überschaulich am Ende jedes Kapitels zusammen. Zu manchen Ratschlägen liefert er auch Studien und/ oder Gespräche mit Experten. Keine Angst, wissenschaftlich langweilig wird es nie. Förster erzählt das alles leicht, locker, mit Humor!

Verlag Malik bei Piper: http://www.piper.de

Niccolò Ammaniti, Fort von hier. Eisele Verlag

Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann

Laut Klappentext dreht sich die Geschichte um den Angeber Graziano Biglia. der sich in ein Filmsternchen verliebt und sie heiratet, aber sich sehr bald für die Lehrerin Flora Palmieri entscheidet. Doch dies geschieht erst im letzten Drittel des 585 Seiten starken Romanes. Will man Leser mit einer verkorksten Liebesgeschichte locken, die ja nur einen Bruchteil des Romans einnnimmt? Der Hauptteil handelt von den Bewohnern eines Dorfes in der Maremma, unweit der Küstenstraße Via Aurelia. In diesem Dorf ist die Trostlosigkeit beheimatet. Nicht unbedingt die absolute Armut wie in dem exzellenten Roman „Ich habe keine Angst“ von Ammaniti. Während letzterer wirklich packend und vielschichtig ist, bleibt so mancher Leser von all den Losertypen, die nur saufen, fluchen und Sex im Kopf haben, unberührt. Selbst die Kinder kennen nur die Fäkaliensprache und Bosheiten, die in schwere Kämpfe ausarten können. Einzige Lichtgestalt: Pietro. Ihn drangsalieren alle Mitschüler, treten, schlagen, beschimpfen ihn. Als er sich in seiner Verzwieflung an besagte Lehrerin wendet, passieren schreckliche Dinge….

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Sabine Thiesler: Romeos Tod. Heyne Verlag

Kein Krimi, ein Thriller nur, wenn man Superspannung mit „thrill“ gleichsetzt. Sabine Thiesler hat mit diesem Buch dem Thriller einen neuen Aspekt, eine neue Richtung gegeben. Nicht das Verbrechen und dessen Aufdeckung und Bestrafung stehen im Fokus, sondern Menschen, die aus einer ganz spezifischen Charakterveranlagung ein Verbrechen begehen. Dass die Autorin ihren Protagonisten ein von tiefem Wissen um die menschliche Psyche geschärftes Profil verleiht, ist ein wesentliches Charakteristikum ihrer Romane.

Diesmal führt Sabine Thiesler den Leser in die Welt des Theaters, genauer hinter die Kulissen, noch genauer in die Seelenzustände eines Schauspielers knapp vor seinen Auftritten. Jan Jepik ist Vollblutschauspieler, wenn er den Hamlet spielt, dann ist er Hamlet, duldet kein „Nur so tun als ob“. Er gibt alles an Kraft in die Rolle, das Publikum tobt. Wenn er den Lenz verkörpert, spielt er dessen Wahn als seinen eigenen. Immer wieder, bei jeder Aufführung neu. Sein Privatleben ist ebenso eine Gratwanderung zwischen Wahn und Wirklichkeit. Ebenso seine Liebe zu Mona, einer hocherotischen und toxischen Persönlichkeit. Wie diese Frau die Überempfindlichkeit Jans und dessen Hang zum Wahn -sinn geschickt ausnützt, ihn manipuliert, ihn zum Mörder werden lässt ….das ist große Erzählkunst. Ein Buch, das man nicht am Abend im Bett beginnen sollte. Es besteht die Gefahr, dass man die Nacht durchliest und man am nächsten Tag arbeitsunfähig ist.

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Gabriele Reiterer, Anna Mahler. Bildhauerin, Musikerin, Kosmopolitin. Verlag Molden

Über Alma Mahler sind wir bestens durch Autobiographie, Biographien und Romanbiographien informiert. Wenig, bis gar nichts wußte man bisher über die Tochter Anna. Nun hat Gabriele Reiterer diese Lücke gefüllt. Die bibliophile Biografie ist im flüssig, leicht lesbaren Stil geschrieben und ausführlich recherchiert.

Als Tochter von Gustav und Alma Werfel trug sie schwer an diesem Erbe. Den geliebten, wenn auch strengen Vater verlor sie mit 11 Jahren. Die Mutter war mehr mit sich und ihren Liebschaften beschäftigt und kümmerte sich wenig um das Kind. Schulbildung im klassischen Sinn gab es keine. Anna war nicht Tochter, sondern Begleiterin am Klavier. „…Musik ist eine Krankheit, die man nicht los wird“, sagte sie. Der Ausspruch steht als Motto am Beginn der Biografie. Musik ist also der eine Teil des Erbes. Der andere ist wohl der unstete Charakter, den ihr die Mutter mitgab. Ähnlich wie Alma wird sie die Männer um sich scharen, sie heiraten und sie verlassen. Fünf Ehemänner und einen (?)Geliebten – soweit man weiß. Das macht sie nicht unbedingt sympathisch. Besonders nicht die Art, wie sie sich ihrer Männer entledigte. Den letzten warf sie aus dem gemeinsamen Haus, weil er ihr von einem Moment zum anderen mit seinem greisenhaften Gehabe auf die Nerven ging.

Aber: Sie war schön, inntelligent und daher interessant für die Männerwelt. Die Frauen – ja eine oder andere Freundin. Alles und immer beherrschend: die Mutter. Anna suchte die Distanz, wurde aber immer wieder zurückbeordert – und sie kam, auch deswegen, weil sie die finanzielle Unterstützung brauchte.

Annas Lebenssinn war nicht die Musik – die hielt sie für etwas Selbstverständliches, so wie Essen, Sex – sondern zunächst die Malerei. Bis sie erkannte, dass sie mit dieser Kunstform nicht klar kam. Beeinflusst von Rodin und später von Fritz Wotruba, der auch ihr Lehrer wurde, begann sie Bildhauerei zu lernen. Der Stein faszinierte sie. Vielleicht war es auch eine Methode, ihre inneren Schwierigkeiten los zu werden. Sie konzentrierte sich auf die menschliche Figur, besonders auf Porträts. Davon leben konnte sie nicht. Erfolg hatte sie erst gegen Lebensende – die Eröffnung der Ausstellung in Salzburg erlebte sie nicht mehr.

Ihr Lebensweg war bestimmt durch ihre Herkunft, Emigration über London in die USA. Nach Wien wollte sie nie mehr zurückkehren. Gabriele Reiterer zeichnet eine Frau, die mit dem schweren Erbe ihrer Eltern, den Männern, die sie vergöttern, und dem ewigen Ortswechsel leben muss. Sie findet spät, aber doch, Zuflucht und innere Bestätigung in ihrer Kunst als Bidhauerin.

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Charles Lewinsky, Der Halbbart. Diogenes

Hat sich hier der Autor selbst ein literarisches Denkmal gesetzt? Charles Lewinsky ist bekannt dafür, dass er fleißig recherchiert und aus den gewonnenen Fakten(?) eine spannende Geschichte baut, die stimmen kann oder auch nicht. Sein Protagonist Sebi gleicht ihm.

Sebi (Sebastian) wäschst in einem Dorf in Schwyz Anfang des 14. Jahrhunderts auf. Die Familie ist arm, seine älteren Brüder müssen für das naheliegnde Kloster Frondienst leisten. Dabei verliert Geni, der Besonnene, ein Bein. Sebi ist der Jüngste, vielleicht neun oder zehn. Er ist ein heller Kopf, beobachtet und macht sich seinen Reim. So ist er auch der erste und einzige, der den seltsamen Zuzügler namens Halbbart in seiner Hütte am Rande des Dorfes aufsucht. Aus Neugier und Mitleid wird Freundschaft. Als Sebi als Sauhirt im Kloster arbeiten muss, haut er bald ab, weil ihm die Scheinheiligkeit des Betriebes auf die Nerven geht. Zu den Soldaten will er nicht, weil er Gewalt verabscheut. Er schlägt sich wieder bis in sein Dorf durch. Inzwischen hat sich Halbbart einen guten Ruf als „Heiler“ gemacht. Doch bald wird ihm dieser Ruf zum Verhängnis und er wird als einer, der mit dem Teufel in Verbindung steht, angeklagt. Doch – oh Wunder – freigesprochen. Danach erzählt er Sebi und dessen Freunden endlich die Geschichte, wie es zu seinen Brandwunden im Gesicht gekommen ist. Er wurde in Korneuburg (!) von einer von einem Priester verhetzten Masse an die Tür seines Hauses angebunden und angezündet. Doch irgendwie konnte er sich im letzten Moment befreien. Ist die Geschichte so gewesen? Niemand kann es wissen. Sebi jedoch, fasziniert von der Art, wie Halbbart diese Geschichte erzählt, beschließt, sich als Geschichtenerzähler durchs Leben zu schlagen. Als „Meisterstück“ erzählt er, wie die Schweizer 1315 die Habsburger vertrieben haben. Dabei übertreibt er so, dass er selbst nicht glauben will, was er da erzählt. Doch er wird zum Helden hochgejubelt: Ja, genau so muss der Freiheitskampf stattgefunden haben!!

676 Seiten lang hält Lewinsky die Leser bei der Stange – allerdings verliert er sicher einige am Weg. Denn so detailreich er über Klosterleben, Dorfgeschichten und Tratsch, Aberglauben und Grausamkeiten zu erzählen weiß, und wie es Halbbart und Sebi eben auch machen, am Höhepunkt einer Geschichte abrupt abbricht und von ganz anderen Ereignissen neu beginnt, man legt das Buch erschöpft immer wieder beiseite, um dann doch wieder weiter zu lesen. Irgendwie ist man dann froh, am Ende angekommen zu sein. Die Moral von der Geschicht`: Glaub der Geschichte nicht. Es gibt keine „historisch gesicherten Fakten“.

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Charles Lewinsky, Sein Sohn. Diogenes Verlag

Ohne modische Versatzstücke erzählt Charles Lewinsky das Schicksal eines Menschen, der von einer Idee besessen ist und sie ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt und dabei zugrunde geht. Ein wenig Simplicissimus, ein wenig Don Quijote, ein wenig historische Fakten und sehr viel Erzählkunst, die eben aus der Mischung von nachgewiesener Geschichte und Fiktion besteht. Man könnte den Roman auch als Analyse eines Menschen lesen, der konsequent einer Idee nachgeht. Ob es Wahn oder Wirklichkeit ist – das lässt Charles Lewinsky offen.

Das Buch liest sich wie ein Abenteuerroman aus der Zeit nach der französischen Revolution. Louis Chabos wächst in einem Waisenhaus in Mailand auf. Schüchtern und etwas klein von Wuchs wird er von seinen Mitbwohnern schickaniert. Es quält ihn, dass er nicht weiß, wer seine Eltern sind. Mit 12 Jahren wird er dem Marquese als Diener übergeben. Von ihm lernt er, sich zu verteidigen, mutig zu sein. Als junger Mann meldet er sich zur franzsösichen Armee und macht die Schrecknisse des Rußlandfeldzuges mit. Ziellos und verwundet irrt er nach dem Krieg herum, sucht nach einem Hinweis auf die Idendität seines Vaters. Endlich findet er in einem kleinen Dorf in Rätien eine Heimat, gründet eine Familie und es scheint, als habe er Ruhe gefunden und die quälende Suche aufgegeben. Bis ihn eines Tages eine Spur nach Paris führt, zu König Lous-Philippe I. Die Suche endet tragisch,,,,

Charles Lewinsky ist ein Menschenmaler mit Worten. Die Charaktere werden plastisch herausgearbeitet und in ein historisches Ambiente hineinerzählt. Mit vielen Details, fundiert recherchiert, reichert er das Romangeschehen an, ohne es zu beschweren. Er leitet den Leser vom Waisenhaus in Mailand bis in das von Luxus und schrecklicher Armut geprägte Paris. Am Ende ist man erschüttert von dem Leid, das diesem Chabos widerfährt. Ein Leid, das er selbst herausgefordert hat.

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David Hewson: Die Medici Morde. Folioverlag

Ein Venedigkrimi. Aus dem Englischen von Birgit Salzmann

Der Autor hat sich auf Krimis in Venedig spezialisiert und mit „Der Garten der Engel“ einen großen Erfolg eingefahren. Leider ist der neue Band lang nicht so spannend, die Erzählung verliert sich in langatmige historische Recherchen über die Medici und ihre Zeit.

Marmaduke Godolphin ist ein erfolgreicher Fernsehhistoriker, füttert sein Publikum mit nicht immer historisch gesicherten Mythen und Fakten. Seine Serien hatten Erfolg, der gerade im Abflauen ist.Um den Erfolg abzusichern, inszeniert er ein großartiges Schauspiel in Venedig, wozu er seine ganze Crew eingeladen hat. Es sollten Morde an Medicis nachgestellt und nachgewiesen werden. Doch bevor die Show wirklich zu Ende ist, findet man ihn tot in einem der Seitenkanäle. Bis dahin verheißt die Geschichte Spannung. Doch leider verläuft sich das Interesse, da der Autor nun seitenlange historische Recherchen dem Leser zumutet. Schade… Aber für Historienfreaks mag das Buch empfehlenswert sein.

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Herbert Lackner, Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt. Verlag Ueberreuter.

Eine politische Kulturgeschichte Österreichs

Im Kreuzungspunkt zwischen Politik und Kultur gab und gibt es Konflikte. Oft mit tödlichem Ausgang, natürlich für die Künstler, im besten Fall „nur“ Konfrontation. Herbert Lackners Interesse und schriftstellerischer Fokus liegt auf diesem Kreuzungspunkt. Mit akribischer Recherche deckt er Hintergründe und Auswirkungen auf. In dem Buch „Als die Nacht sich senkte“ schreibt er über die Anfänge, als Künstler , besonders jüdische, in der Zwischenkriegszeit mit Anfeindungen zu kämpfen hatten. Im zweiten Band „ Die Flucht der Dichter und Denker“schildert er die Schicksale der Künstler, die dem Naziregime entkamen. Wie ernüchternd für viele die Rückkehr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Heimat war, beschreibt Lackner in dem Band „Rückkehr in die fremde Heimat“

Nun ist also der vierte Band erschienen: „Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“. Als Vollprofijournalist findet Lackner immer attraktive Titel, wie eben auch diesen. Das Streitgespräch fand 1928 im Kanzleramt statt. Ignaz Seipel hatte einige Künstler, darunter auch Arthur Schnitzler, zu einer Diskussion über die Verschärfung des „Schmutz- und Schundgesetzes“ eingeladen. Dabei kam es zu einem heftigen Streit zwischen Seipel und Schnitzler, in dem Schnitzler einem Politiker grundsätzlich die Urteilsfähigkeit über Kunst abspricht. Und genau diese Frage ist das grundlegende Thema des Buches. Lackner zeigt auf, wie sich Politik immer wieder der Kultur und der Frage, was als Kultur gelten darf, bemächtigt. Vor allem deckt Herbert Lackner Hintergründe auf, von denen man bisher nichts wußte, etwa wie viele ehemalige Nationalsozialisten es „sich richten konnten“ und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder politische Karriere machten.

Lackner spannt den Bogen von Schnitzlers „Reigen“ bis zum heftig angefeindeten „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard und endet bei den heftig umstrittenenen Aktionen rund um „woke“ und „kulturelle Aneignung“. Die Gefahr, Kultur als Politikum zu missbrauchen, ist immer virulent. So gesehen, liest sich das Buch als Aufruf zur Wachsamkeit. Als Leser stellt man sich am Ende die heikle Frage, wo man sich selbst einordnet – als reaktionär? – Nur weil man vielleicht manches nicht gutheißen kann?! Gehört man zu den Rechten, den „ewig Gestrigen“, weil man Gendern und Regietheater lächerlich findet?

www.ueberreuter.at

Jennifer Ackerman: Die geheime Welt der Vögel.

Untertitel: „Wie sie denken, spielen, sprechen und ihre Kinder erziehen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel.

Illustrationen von John Burgoyne

Jennifer Ackerman ist eine weltweit anerkannte Ornithologin. Sie erforscht die Welt der Vögel, ohne sie zu vermenschlichen oder zu verniedlichen. Ihre Forschungsergebnisse hat sie in mehreren Büchern veröffentlicht. In ihrem letzten Werk schreibt sie zwar darüber, wie „Vögel denken, spielen oder sprechen“, aber es folgen keine „lieben“ Geschichten, die man den Kindern am Abend vorliest, sondern faktenbasierte ERgebnisse langer und ausführlicher Beobachtungen. Bei jedem einzelnen Thema, zum Beispiel „Mobbing“ oder „Alarm“, bescheibt sie die für diese Aktion in Frage kommenden Vogelarten. So greifen zum Beispiel Krähen von oben an, Möwen sind besonders fies: sie bekoten ihren Gegner, bis dieser sich nicht mehr rühren kann. Alle Beobachtungen werden in wissenschaftlicher Sprache abgehandelt, aber immrt wieder mal durch witzige Neuigkeiten aus der Vogelwelt aufgelockert. Der Laie wird sich über diese Passagen freuen, der Kenner die wissenschaftlichen Informationen aufsaugen.

Eine ausführliche Literaturliste und ein abundantes Register sind bei der Suche nach spezifischen Themen sehr hilfreich.

www.ullstein.de

Ilona Jerger, Lorenz. Piper Verlag

Konrad Lorenz entwarf mit seiner „Vergleichenden Verhaltensforschung“ ganz neue Sichtweisen auf die Welt der Tiere. Seine Vergleiche Tier-Mensch fanden nicht immer die Zustimmung in der Welt der Wissenschaft. Und seine Parteizugehörigkeit zur NSDAP hat er lange verschwiegen, was man ihm schon zu Lebzeiten übel nahm. Dennoch waren die Österreicher mächtig stolz auf ihn, als er 1973 den Nobelpreis erhielt.

Über ihn erschienen schon zu Lebzeiten viele Artikel, seine Bücher erregten Aufsehen. Nun hat sich Ilona Jerger mit dieser schillernden Persönlichkeit befasst und nach langen Recherchen eine interessante, humorvolle und immer spannend geschriebene Biografie vorgelegt. Wobei sie betont, keine reine Biografie verfasst zu haben, sondern eher eine Romanbiografie. So erlaubte sie sich Details einzuflechten, die vielleicht so hätten stattfinden können, für die es aber keine Beweise gab. Sie führt auch in Ichform eine Tierforscherin ein, die den Spuren ihres großen Vorbildes nachgeht. Dieser erzählerische Kapriole wäre allerdings nicht notwendig gewesen, sie verwirrt eher.

Konrad Lorenz‘ Leben (1903-1989) spiegelt die Geschichte des 20. Jahrhunderts wider.Nach seinem Medizinstudium widmet er sich als Privatgelehrter der Tierforschung und richtet 1926 auf dem Grund es elterlichen Anwesens in Altenberg bei Wien eine zoologische Forschungsstätte ein. Er beobachtet Gänse – die Gans Martina geht in die Geschichte ein -, Vögel, Hunde, eben alles, was um ihn herum kreucht und fleucht. Als er sich der nazionalsozialistischen Ideologie andienert, bekommt er einen Lehrstuhl in Königsberg. Doch bald wird er eingezogen, als Arzt an die Ostfront geschickt und von den Russen gefangen genommen. Doch auch in der Gefangenschaft setzt er seine Tierbeobachtungen fort. Dank seiner medizinischen Kentnisse kann er vielen Kameraden das Leben retten. Nach sechs Jahren Gefangenschaft wird er freigelassen und kehrt nach Altenberg zurück. Sein Ruhm als Forscher verbreitet sich, 1950 leitet er die Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung, später wird er Direktor des Max-Planck-Institutes für Verhaltensphysiologie am Eßsee in Oberbayern. Mit steigendem Ruhm werden die Stimmen gegen ihn immer lauter, seine NS -Vergangenheit kommt ans Licht. Doch unbeirrt arbeitet Lorenz weiter, schreibt Bücher, engagiet sich im Umweltschutz – Hainburg. Er bleibt bis zu seinem Tod der berühmte Mann, der mit den Gänsen, Fischen und Vögeln sprach.

Ilona Jergers Buch ist keine trockene Biografie. Mit vielen interessanten und humorvollen Details gelingt es ihr, den Menschen Konrad Lorenz den Lesern nahe zu bringen. Dabei beschönigt sie nichts, zitiert aus Briefen und Vorträgen reichlich unangenehme Zitate, die Lorenz als glühenden Verfechter der Rasssentheorie ausweisen. Seitenhiebe und Details rund um das Hitlerregime verblüffen – etwa, die Tatsache, dass Hitler nicht einschlafen konnte. Erst wenn sein geliebter Schäferhund mit ihm einen Schlafgesang anstimmte, dann fand der Neurotiker einigermaßen Ruhe. Geschichten über den schrulligen Philosophen Heidegger, den Dichter Celan oder Willy Brandt beleuchten die politischen und kulturellen Entwicklugen..

„Lorenz“ von Ilona Jerger ist ein lebendig geschriebenes, interessantes Buch, ohne moralisierende Überlegungen. Die intensive Recherche macht sich nicht als lästiger Überhang breit, sondern wird geschickt in die Handlung eingebaut.

www.piper.de

Daniel Kehlmann, Lichtspiel. Rowohlt

Warum ausgerechnet ein Roman über G.W.Pabst? Er war ein Gigant der Stummfilmzeit, einer der ganz Großen, an den sich aber heute kaum jemand mehr erinnert – außer Kenner der Stummfilmzeit. Aber wenn Daniel Kehlmann diese Figur ins Zentrum eines 450 Seiten starken Romans stellt, dann hat er gute Gründe. Die zu entdecken ist für den Leser nicht immer einfach.

Die ersten 80 bis 100 Seiten wirken wie ein schnell hingeschriebenes Filmskript: Personen wechseln im raschen Schnitt, kaum erkennbar. Pabst in Hollywood: niemand kümmert sich mehr um den einst Großen Pabst, er ist frustriert und will nur eines: Filme machen, und zwar gute, herausragende. Längst sind seine Erfolgsfilme wie „Die freudlose Gasse“ (mit Greta Garbo und Wener Krauß, 1929 in Deutschland) vergessen. Ein alarmierender Brief seiner Mutter ruft ihn und seine Frau Trude 1939 von Hollywood nach Österreich zurück. Ab diesem Abschnitt beginnt der Roman Fahrt aufzunehmen, man glaubt zu verstehen, was Kehlmann in dieser Figur eines naiven, zum Bleiben gezwungenen „Rückkehrers“ aufzeigen wollte: Österreich hat sich dem Hitlerdeutschland angeschlossen. Der Nazionalsozialismus blüht und gedeiht. Im eigenen Haus (Schloss in der Steiermark) wird die Familie Pabst bespitzelt. Doch er scheint von der politischen Lage unbeeindruckt zu sein – er will nur Filme drehen- Und er lässt sich in als Galionsfigur vor das Hitlersche Propagandasystem spannen. An diesem Punkt bleibt Kehlmann der Figur einiges schuldig: Aus demr Drang, künstlerische Filme zu machen, scheint Pabst blind für die das politische Geschehen um ihn herum zu sein. Die Frage, ob Kunstauftrag oder der Wille, sich künstlerisch zu verwirklichen, die Kompromisse rechtfertigen. die ein unter den Nazis arbeitender Künstler eingehen muss, bleibt unbeantwortet, besser gesagt: unbewertet. Vielleicht stellt Kehlmann die Frage an den Protagonisten überhaupt nicht – aus dem einfachen Grund, keinen moralisierenden Roman schreiben zu wollen. Er überlässt das Urteil darüber dem Leser. Am Ende des Romans ist die Antwort nicht eindeutig klar. So viel Blindheit glaubt man der Hauptfigur – und daher dem Autor – nicht. Dennoch ist der Roman lesenswert, spannend geschrieben, wenn auch durch häufige Wechsel der Erzählperspektiven manchmal ärgerlich modisch.

www.rowohlt.de

Charles Lewinsky, Rauch und Schall. Diogenes

Ein literarisches Kleinod! Ein Tortenstück, das man gierig auf einen Sitz verschlingen möchte. Aber man weiß zu genießen und teilt sich die Stücke/Seiten ein. Nach 30, maximal 40 Seiten schlägt man das Buch zu, um am nächsten Tag auch noch in den Genuss dieser intelligenten Lektüre zu kommen. Und wenn man es zu Ende gelesen hat, dann ist man ein wenig traurig. Ein kluger, witziger Begleiter hat sich gerade verabschiedet.

Charles Lewinsky ist ein brillanter Erzähler. Wie ein Sprach-Gaukler schlüpft er in die Sprache der Goethe- und Weimarerzeit hinein, ohne alterzutümeln. Er kennt sich aus mit all den Hochwohlgeborenen und den nur Wohlgeborenen, die mit leeren Worthülsen, Eifersüchtelein und dummen Spielen den Tag verbringen. Lewinsky persifliert Sprache und Atmosphäre des Weimarer Hofes auf perfid-witzige Art. Goethe, der sehr Verehrte, bleibt da nicht ungeschoren. Im Gegenteil, auf ihn richtet Lewinsky sein ironisches Sprachlorgnon.

Der gute, allseits verehrte Goethe hat eine heftige Schreibhemmung. Um die zu beheben, ist er in die Schweiz gereist, um sich von der imposanten Berglandschaft inspirieren zu lassen. Aber leider bekam er von der anstrengenden Reise in den unbequemen Kutschen statt Inspirationen Furunkeln und Hämorrhoiden. So kehrt er mißmutig nach Weimar zurück. Christiane Vulpius, zu dieser Zeit (es muss wohl um 1779 gewesen sein, genaue Daten gibt Lewinsky nicht an, um nicht den Anschein einer Biografie zu erwecken) noch offiziell seine Haushälterin, inoffiziell seine Geliebte, bereitet ihm einen liebevollen Empfang. Sohn August ist etwa sieben Jahre alt.

Heimgekehrt zieht sich Goethe Tage um Tage in sein Schreibzimmer zurück, doch die Blätter bleiben leer. Christiane versucht alles – wirklich alles -, um ihn aufzuheitern, aber ohne Wirkung. Als ihn dann noch der Auftrag ereilt, für Herzogin Amaliens Geburtstag eine Weihespiel zu schreiben, beginnt sein Dilemma. Mehr sei hier nicht verraten. – Lesen und Genießen empfehle ich allen, die mit Goethe, Christiane Vulpius und Weimar ein wenig vertraut sind. An wem diese Zeit der klassischen Literatur vorbeigegangen ist, der wird sich schwer tun, die Anspielungen und die dahinter versteckte Ironie vollinhaltlich zu genießen.

www.diogenes.ch

Yavud Ekinci: Das ferne Dorf meiner Kindheit. Kunstmann Verlag

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Yavud Ekinci ist ein engagierter türkischer Schriftsteller, der für die Rechte der Kurden vehement eintritt, was natürlich im Erdoganregime nicht unbeobachtet blieb. Zur Zeit lebt er in Deutschland. Sein Roman „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ hat einen biografischen Hintergrund. Die Handlung umspannt fast ein Jahrhundert.

Im ersten Teil schildert er aus der Sicht des Kindes Rüstem das Aufwachsen in einem kurdischen Dorf irgendwo in den anatolischen Bergen. Seine kindliche Welt scheint zunächst unbedroht: Murmelspiele, die ersten verliebten Blicke auf ein Mädchen. Doch bald trübt sich die heitere Kindheit ein – drohende Wolken ziehen auf: In der Schule wird bei Prügelstrafe verboten, Kurdisch zu reden. Sein älterer Bruder hat sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen und wird von den Soldaten gesucht. Das Haus, in dem Rüstem mit seinen Großeltern und dem Vater wohnt – seine Mutter ist schon lange tot – wird von den Soldaten durchwühlt. Als der geliebte Großvater stirbt und alle Häuser des Dorfes von den Soldaten in Brand gesetzt werden, geht seine Kindheit jäh zu Ende.

Im zweiten Teil ist Rüstem ein junger Mann. Er besucht die kranke Großmutter im Spital in der Stadt. Dabei erzählt sie ihm aus ihrer Vergangenheit: Sie ist Armenierin, die durch Zwangsheirat vor dem Genozid „gerettet“ wurde. Ihren ersten Ehemann, den sie sehr geliebt hatte und mit dem sie nur 6 Monate verheiratet war, fand sie als von den Soldaten übel zugerichteten Leichnam. Nun ist es ihr einziger Wunsch, neben ihm begraben zu werden. Rüstem lädt gemeinsam mit seinem Vater den Sarg mit der Leiche seiner Großmutter auf einen Traktor. Sie fahren los, um sie an dem von ihr gewünschten Ort zu begraben. Doch sie werden von Soldaten aufgehalten, der Sarg wird zertrümmert, die Leiche mit Schüssen durchbohrt. Die beiden verbringen eine grauenvolle Nacht in einer engen Gefängniszelle gemeinsam mit der schon stinkenden und von Maden angefressenen Leiche. Am nächsten Morgen werden sie zwar freigelassen, aber die Leiche darf nicht begraben werden. Der Vater Rüstems sperrt sich mit ihr in seinem Zimmer ein und erhängt sich.

Yavud Ekinzi meinte in einem Interview, Literatur müsse immer politisch sein, grausam und hart. Aber ehrlich: Zu viel der sehr detaillierten Schilderungen diverser Leichen tut dem Roman nicht gut – angeekelt liest man darüber hinweg und ist fast erleichtert, als man am Ende angekommen ist. Die Bereitschaft, über das Schicksal der Kurden und der Armenier mehr zu erfahren, nimmt mit zunehmender Seitenanzahl ab.

www.kunstmann.de

Niccolò Ammaniti: Ich habe keine Angst. Eisele Verlag

Aus dem Italienischen sehr feinfühlig übersetzt von Ulrich Hartmann

Ammaniti ist Fans der italienischen Literatur längst ein Begriff.“Io non ho paura“ ist eines seiner frühen Bücher, das er wahrscheinlich in den späten 90ern schrieb. 2001 erschien es bei Mondadori und nun also in deutscher Fassung („Ich habe keine Angst“) im Eisele-Verlag.

Ein vier Häuser-Seelendorf , irgendwo im Süden Italiens, es könnte in der Toscana oder Apulien liegen. Aber die von Weizen bedeckten goldgelben Hügel lassen eher Sizilien vermuten. Auch die übergroße Armut, von der Ammaniti immer wieder spricht.

Ammaniti erzählt in der Ichform aus der Sicht des 9-jährigen Michele. Später erfährt man, dass es die Sicht und Erinnerung des Erzählers ist, der sich hin und wieder einschaltet. Was sofort beim ersten Lesen auffällt: Ammaniti schreibt aus der Seele des Kindes. In einer authentischen Sprache erleben wir die Zweifel, Ängste und Gewissensbisse des Buben. Ganz ohne Verkindlichung. Im Gegenteil – die Welt in dem Dorf ist hart. Hart die Erziehungsmethoden – die Mutter versohlt Michele ganz ordentlich, effektiver als ein Mann. Zugleich aber liebt sie ihn und verteidigt ihn mit Tritten und Fausthieben gegen jegliche Angriffe. Den Vater liebt Michele vielleicht noch mehr, wohl weil er nicht allzu oft zu Hause ist. Kehrt er von seinen langen Fahrten mit dem Lastwagen zurück, wird er stürmisch begrüßt, besonders von Maria, der um fünf Jahre jüngeren Schwester.

Obwohl Michele sich oft über sie ärgert, weil sie ihm wie ein Hündchen überall nachfolgt, beschützt er sie dennoch. So beginnt der Roman: Michele sorgt sich um Maria, als sie ihm irgendein Wehwechen vorjammert. Obwohl er weiß, dass sie nur Theater macht, klinkt er sich aus dem Spiel mit seinen Freunden aus, verliert auch den ersten Platz im Radwettfahren. Als Barbara, ebenfalls eine nicht gewollte Mitgespielin, vom Anführer Totenkopf dazu verurteilt wird, ihre Hose runterzulassen und ihre Vagina zu zeigen, macht Michele sich erbötig, an Stelle Barbaras die ausgedachte Strafe auf sich zu nehmen: Er muss auf den Hügel hinauf und in das verfallene Haus hineinklettern, in dem er und keiner von den Freunden noch je waren. Dabei fällt er in ein Erdloch, wo er einen zum Skelett abgemagerten Buben findet. Erschrocken will er fliehen, doch dann merkt er, dass das Skelett lebt, und schon regt sich in ihm sein Mitgefühl. Er verspricht ihm zu helfen.

Warum ich darüber so ausführlich schreibe? Weil schon in den ersten Seiten der Charakter Micheles klar wird: Gerechtigkeitssinn und Mitgefühl für andere sind stark ausgeprägt. Das Ende des spannenden Romans ist spiegelbildich zum Anfang komponiert: Er wird unter hohem Risiko diesen Jungen vor dem Tod retten.

Wunderbar baut Ammaniti die Handlung in die Landschaft und das Wettergeschehen ein. „Alles war mit Korn bedeckt. Die niedrigen Hügel folgten aufeinander wie Wellen eines goldenen Ozeans. Bis zum Horizont nur Korn, Himmel, Grillen, Sonne und Hitze.“ (S 10) Das ist nicht die Sprache des Kindes, sondern die des Erzählers, der sich erinnert. Wie die beiden Sprachebenen fast unmerklich ineinander fließen, das ist große Sprachkunst. Die alles verbrennende Sonne raubt den Erwachsenen den Verstand, die Armut treibt sie in das Verbrechen – die Bewohner des Dorfes werden zu Entführern, um von den Eltern Lösegeld zu erpressen. Als die Sonne alle in die Häuser treibt, legt sich bleierne Stille über das Dorf. Doch ein Gewitter entlädt die Spannung – die Bewohner beschließen den im Loch gefangen gehaltenen Buben zu töten, weil die Aussicht auf Lösegeld gleich null ist.

Anfang der 70er bis in die 90er Jahre wurden in Italien Kinder reicher Eltern, namhafter Politiker gestohlen, um Geld zu erpressen. Diese Verbrechen gingen nicht immer zu Lasten der Brigate Rosse, sondern geschahen oft aus bitterster Armut heraus. Sardinien war damals trauriger Vorreiter in Sachen Entführung. Wohl aus diesen Erinnerungen heraus schrieb Ammaniti diesen Roman.

www.eisele-verlag.de

Serena Dandini, Die Frau in Hitlers Badewanne

Aus dem Italienischen von Franziska Kristen. btb

Was für eine vertane Chance! Eine interessante Frau mit einem aufregenden Leben hätte eine tolle Biografie oder einen ebensolchen Roman verdient. Aber das Buch ist weder noch. Durch Zeitsprünge und langweilige Anhäufungen von Namen, von denen bis auf Man Ray, Picasso, Breton und Max Ernst die anderen ziemlich unbekannt sind, verliert das Buch an Spannung. Außerdem spricht mitten im Text die Autorin über ihre Gefühle, wenn sie die Fotos ihrer Protagonistin ansieht. Was völlig deplaziert wirkt und ebenfalls den Lesefluss stört. Wenn sie die Protagonistin immer mit dem Attribut „die schönste Frau der Welt“ oder Ähnlichem versieht, so wirkt das aufgesetzt und ein wenig einfältig. Warum gibt es kein einziges Foto von Lee Miller? Eine Biografie über eine Fotografin ohne Fotos!?

Lee Miller ist die Frau in Hitllers Badewanne. Auf dem Cover ist eine Frau zu sehen, die in einer Badewanne sitzt und sich dabei selbst fotografiert. Sie ist auf ihrer Fotorecherche durch die Gräuel des Nachkriegsdeutschland und der Konzentrationslager am Ende in der Wohnung Hitlers gelandet und fragt sich entsetzt und verstört, wie so ein Monster so bieder wohnen konnte. Wie um den Mythos Hitler zu zerstören, lässt sie sich in seiner Badewanne nackt fotografieren.

Der Roman/ die Biografie beginnt mit dieser Szene. Dann springt die Autorin in die Kindheit Lees zurück. Elizabeth „Lee“ Miller wurde 1907 in Poughkeepsie , USA geboren. Früh schon lernte sie für ihren Vater als Fotomodell zu posieren. Sehr jung wurde sie zu einem best bezahlten Fotomodell der Vogue. Sie genießt das Party- und flirrende Liebesleben, wechselt ihre Liebhaber, langweilt sich rasch, beschließt die Seite zu wechseln: Sie reist nach Paris und wird zunächst Assistentin, dann Partnerin und Liebhaberin von Man Rey. Von ihm lernt sie die Kunst der Fotografie. Wechselt Liebhaber ohne mit der Wimper zu zucken, heiratet einen reichen Ägypter, bei dem sie sich auch sehr bald langweilt. Wieder in Paris bewegt sie sich im Surrealistenkreis um Breton und fotografiert die Künstlerszene. Im 2. Weltkrieg ist sie eine der wenigen weiblichen Kriegsberichterstatterinnen. Man gewinnt mehr und mehr den Eindruck, dass Lee Miller ihr Leben verbrennt. Aus Langeweile. Die jedoch schlagartig nach den entsetzlichen Eindrücken in Dachau in tiefe Depressionen umschlägt. Ihre letzten Lebensjahre verbringt sie in England, heiratet Roland Penrose, bekommt einen Sohn. All dies lässt sie aber im Inneren kalt. „Der Schritt von der atemberaubenden, schönen Muse zur armen, alten Irre ist nicht allzugroß“ konstatiert die Autorin (S255) Lee Miller -Penrose stirbt 1977 an Krebs. Verhärmt und in tiefer Depression.

www.penguin.de/btb-Verlag