Erika Schellenberger: Alles behalten für immer – Ruth Rilke. Verlag Ebersbach & Simon

Der Titel ist ein Zitat aus Rilkes neunter Elegie

Erika Schellenberg hat viel recherchiert, um Ruth Rilke, die Tochter des hochverehrten Dichters Rilke, zu Ehren kommen zu lassen. Sie hat es auch verdient. Denn bisher stand Ruth Rilke immer im übergroßen Schatten ihres Vaters. Wenige wussten überhaupt, dass Rilke eine Tochter hatte.

Rilke heiratete 1901 die Bildhauerin Clara Westhoff, die er im Jahre im Künstlerdorf Worpswede kennengelernt hatte. Ruth wurde im Dezember 1901 geboren. Aber schon bald verließ Rilke Ehefrau und Tochter, weil es ihn in der Welt herumtrieb. Der Kontakt zu seiner Familie blieb jedoch aufrecht. Immer wieder besuchte er Clara und Ruth, die nur wenige, aber ihr sehr kostbare Erinnerungen an ihren Vater hatte.

Das Archiv zu bewahren und zu ordnen wird Ruths Lebensaufgabe. Außerdem betreibt sie die Herausgabe der Rilkewerke in dem renommieren Inselverlag. Sie heiratet nach dem Tod ihres ersten Mannes Willy Fritzsche, der ihr bei der Renovierung des ehemaligen Atelierhauses ihrer Mutter hilft. Ruth wird sich bis zu ihrem Tod 1972 mit dem Nachlass ihres Vaters beschäftigen.

Dass die Autorin fleißig recherchiert hat, steht außer Zweifel. Leider erschweren Zeitsprünge den Lesefluss. Eine „klassische“ Biografie, die sich an den Lebensablauf hält, wäre erhellender gewesen!

www.ebersbach-simon.de

Volksoper Wien: Anatevka (Fiddler on the Roof)

Musik: Joseph Stein, Musik: Jerry Bock, Gesangstexte: Sheldon Hornick. Nach der Geschichte von Sholem Alejchem

Gute Musik und ein gescheites Buch sind alterslos. Dieses Musical ist seit der Uraufführung von 1964 in New York um kein Bisschen gealtert. Im Gegenteil – heute mehr denn je aktuell.

Unter der musikalischen Leitung von Freddie Tapner spielte das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper mit so viel Freude und Verve, dass man Mühe hatte, nicht vom Sessel aufzuspringen und mitzutanzen! Dazu ein Bühnenbild (Mathias Fischer-Dieskau), das das Publikum direkt in ein altes Dorf irgendwo in den Tiefen Russlands hineinversetzt: Häuser, die eher klapprigen Hütten gleichen, ein Straßendorf, das bis in den Horizont verläuft, wo sich ein wolkenverhangener Himmel öffnet. Manchmal scheint ein tröstliches Morgenrot das Dorf zu erhellen, manchmal ist dieses Rot ein Flammenzeichen der Gefahr. Die sensible Lichtregie von Frank Sobotta versetzt Menschen und Häuser in eine mystische, archaische Zeit, verstärkt wird dieser Eindruck durch das Geigenspiel des „Fiddler auf dem Dach“, Lukas Kusztrich. Wie ein Hüter des Dorfes spielt er auf den Dächern stehend, manchmal tröstlich, dann wieder Geheimnisvolles ankündigend.

Die Menschen in diesem Dorf Anatevka führen ein ärmliches, aber nicht unglückliches Leben. Die Tradition wird hoch gehalten, man feiert den Shabbat – diese Szene ist tief berührend -, fragt in schwierigen Situationen den Rabbi, der jedoch auch keine Lösung bereit hat. So wendet sich Tevje, der Milchmann, direkt an Gott mit seinen Fragen und Problemen. Dominique Horwitz ist ein Tevje, wie man sich ihn nicht besser vorstellen könnte: In seinem Gesicht, Stimme und Gestik zeichnet sich die Mühe des Lebens ab. Als drei seiner Töchter sich ihren Bräutigam ohne die Heiratsvermittlerin (großartig Martina Dorak) und ohne ihn um Erlaubnis zu fragen aussuchen und sich still und heimlich verloben, bricht für ihn im ersten Moment die Welt zusammen. Doch dann kommen seine Erwägungen – humorvoll: Einerseits, andrerseits – und letztlich versöhnt er sich mit diesen aufmüpfigen Töchtern und deren Verlobten. Jüdischer Humor glänzt immer wieder auf – zum Beispiel in der Traumszene: Tevje muss seiner Frau Golde – ganz ausgezeichnet von Regula Rosin gespielt und gesungen – klar machen, dass seine älteste Tochter Zeitel (stimmlich und darstellerisch gut: Anita Götz) nicht den reichen Fleischer (Marco di Sapia), sondern den armen Schneider Mottl (Oliver Liebl) heiraten wird.

Alle Darsteller, bis in die kleinsten Nebenrollen, sind stimmlich und darstellerisch gut besetzt. Nicht unerwähnt dürfen die Leistungen der Tänzer des Wiener Staatsballetts bleiben: Der Kasatschok und der Flaschentanz sind Glanzleistungen.

Dass das Musical heute mehr denn je aktuell ist, macht der Schluss deutlich: Ein Erlass des Zaren zwingt die Bewohner, binnen kurzer Zeit Haus und Heimat zu verlassen: „Heimat verlassen tut weh, sehr weh“ singt Tevje. „Ja, wir ziehen weg von hier, Gewalt vertreibt die einen, Gleichgültigkeit die anderen.“ Wer denkt da nicht an die jüngsten Ereignisse?

Und wieder einmal zeigt sich, dass eine kluge Regie, die ohne Schnick Schnack und modische Attitüden auskommt, erfolgreich ist. Das Publikum dankte dem Ensemble und dem Dirigenten mit viel Applaus und Bravorufen!

www.volksoper.at

Niccolò Ammaniti: Intimleben. Eiseleverlag

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Zunächst einmal ein Kompliment an die Übersetzerin. Denn leicht zu übersetzen ist die „verfickte Intelligenzia- und Bourgoissprache“ nicht, die der Autor seinen Protagonisten zuschreibt. Da wird ordinärster „schicker“ Jargon angewendet, und an so manchen Stellen kommt auch die versierte Übersetzerin an ihre Grenzen. Denn Ammaniti beschreibt ausführlich das sexuelle Intimleben – es geht um zwei Pornofilme – und von dem ausgehend beleuchtet er das seelische Intimleben der Protagonistin. Klug und scharfsinnig, spannend geschrieben!

Maria Cristina gilt als die schönste Frau der Welt. Auf den Titel könnte sie gerne verzichten, wäre sie nicht Gattin und mediales Aushängeschild des italienschen Ministerpräsidenten. Als diese wird ihr Leben von ihrer medialen Wirkung bestimmt, und jeder Schritt und jedes Wort sorgfältig von einem Spindoctor geplant. Nun soll sie, was sie noch nie getan hat, ein Fernsehinterview geben – man hofft, dass dadurch die sinkenden UMfragewerte ihres Mannes steigen. Widerwillig nimmt sie an, und hat fortan nur mehr Angst davor. Unversehens begegnet sie einem Jugendfreund. Lebemann Nicola Sarti ist reich, besitzt mehrere Hotels. Sie hatten Jahre keinen Kontakt. Nun schickt er ihr Bilder aus dem Segelturn, den Nicola, Cristina und ihr Bruder gemeinsam in ihrer Jugend unternommen hatten. Dabei drehten Nicola und Cristina aus jugendlichem Übermut ein Pornovideo. Als er ihr dieses ebenfalls sendet, hat sie Angst, er könnte sie erpressen. Und es sieht auch alles danach aus. Mehr sei hier nicht verraten!

Ammaniti ist einer der erfolgreichsten Autoren Italiens. In diesem Roman entlarvt er das Leben der Reichen und Mächtigen, das von Intrigen und den Medien bestimmt ist. Wer sich diesem Imperialismus untwerwirft, verliert seine Seele, sein Intimleben. Durch die bewusst eingesetzte rohe Sprache charakterisiert er diese Gesellschaftsschicht sehr deutlich.

www.eisele-verlag.de

Susanne Wiborg, Der glückliche Horizont.

Untertitel: Was uns Landschaft bedeutet

Verlag Antje Kunstmann

In dem klugen Vorwort schreibt Susanne Wiborg: „Über Jahrhunderte blieb diese Verbindung (zwischen Mensch und Landschaft) eng und gut dokumentiert, erst mit dem Kulturbruch des Ersten Weltkrieges riss die Kontinuität ab. Plötzlich kamen Landschaft und Natur zugunsten des Urbanen aus der Mode.“ (S 8)

Erst der Tourismus, jetzt der Overtourismus, und die Gefährdung der Natur und Landschaft durch Umweltverschmutzung und Klimawandel rücken die Landschaft wieder in den Fokus der schreibenden Zunft. Man sieht die Gefährdung: die Landschaft dient als Verdienstvehikel – Berge werden mit Aufstiegshilfen zu Massenzielen, Wälder durch Bikes zu Rennstrecken etc..

Doch Susanne Wiborg ist zuversichtlich: Noch hat „die Landschaft ihre Seele nicht verloren“. In den literarischen Texten sucht sie nach Beweisen ihrer Zuversicht, zitiert Zuckmayers und vieler anderer Autoren Begeisterung für die Berge. Insgesamt ist das Buch ein umfassendes Zitatenwerk über alles, was Landschaft ausmacht: Berge, Fluss, Meer, Wiese, Wald, Heide.

Das Quellenverzeichnis am Ende ist ausführlich und hilfreich für alle, die nach brauchbaren Zitaten zum Thema Landschaft suchen.

www.kunstmann.de

Akademietheater: Serge nach dem Roman von Yasmina Reza

Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Bühnenfassung: Liliy Sykes und Andreas Karlaganis

Regie: Lily Sykes, Bühne: Marton Agh, Kostüme: Jelena Miletic

Wann wird es endlich wieder so, wie es unter Karin Bergmann war? Als noch Joachim Mayerhoff, Christiane von Poelnitz, Petra Morzé und viele andere spielten, die wir alle sehr vermissen. Als noch nicht jede Aufführung unter „Vernuschelung“ der Sprache litt, und noch nicht jede Aufführung unter ein moralisches Diktat gestellt wurde.

Die Folgen all dieser Absenzen erlebt man, wenn man zehn Minuten vor der Vorstellung den Zuschauerraum betritt – fast leer. Erst langsam füllt er sich mit Besuchern, die so schlau waren und ein Last Minute Ticket kauften – denn damit können sie sich die Sitzplätze ausssuchen. So füllten sich dann doch die vorderen Reihen.

Yasmina Reza hat mit „Kunst“ oder „Der Gott des Gemetzels“ hinlänglich bewiesen, dass sie eine tolle Dramatikerin ist, Gesellschaftskritik gekonnt in Satire festmachen kann. Dass sie „Serge“ als Roman schrieb, wird wohl seine Gründe haben. Jedenfalls: Die dramatisierte Fassung vergeigt das Hauptthema durch unnötige Gags. Und die schlampige Aussprache der Schauspieler, die entweder flüstern, schreien oder nuscheln, macht das Verstehen auch nicht einfacher. Worum es Reza in dem Roman ging, kann man im Programm nachlesen, in dem das Interview, das Iris Radisch für DIE ZEIT am 22. Jänner 2022 geführt hat, abgedruckt ist: Reza auf die Frage, ob es um das Verschwiegene in dieser Familie geht, das ans Tageslicht kommen sollte: „Kein bisschen. Solcherlei Themen, die Aufdeckung des Verborgenen, des Verdrängten, interessieren mich absolut nicht“. Und zur „Auschwitzkeule“, wie Martin Walser das aufoktruierte Gedenken nennt: “ Das ist eine Art und Weise, guten Geewissens die Geschichte zu glätten…Gedänkstätten werden errichtet, all das dient der Beruhigung… Ich halte es für eine gefährliche Illusion zu meinen, das Gedenken würde bessere Menschen hervorbringen.“

Was sieht man an diesem Abend? – Eine jüdische Familie trifft sich beim Begräbnis der Mutter. Drei Geschwister (Jean-Michael Maertens, Serge Roland Koch, Nana Alexandra Henkel) streiten, ob man quasi im Gedenken an das jüdische Erbe Auschwitz besuchen soll. Der Besuch wird zum Disaster und endet im totalen Chaos und Streit.

Am Ende der Aufführung wurde ich von einer Besucherin gefragt, ob ich verstanden hätte, worum es in dem Stück ging. Meine Antwort: Nein.

www.burgtheater.at

Wiener Staatsoper: Ballett „Don Quixote“

Choreographie und Inszenierung: Rudolf Nurejew nach Marius Petipa.

Musikalische Leitung: Robert Reimer. Musik: Ludwig Minkus in der Bearbeitung von John Lanchbery

Foto: Liudmila Konovalova und Davide Dato als Kitri und Basil

Ein Abend der höchsten Perfektion. Man spürt und sieht immer noch Nurejews kritischen Blick und seine hohen Anforderungen an das gesamte Ensemble.

Was zu entdecken ist: Nurejew hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, den er gekonnt in Gesten und Figuren umzusetzen wusste und der vor allem sich in den Figuren Don Quixotes und Sancho Pansas manifestiert. Schon im Prolog in Don Quixotes Haus erfährt man: Dieser Don Quixote ist ein Träumer, der an der Realität vorbeilebt, aber dabei recht gut lebt. Er ruht in sich und seinen Träumen, auch wenn er von allen herumgestoßen und belächelt wird. Zsolt Török ist ein liebenswerter alter Don Quixote, der sich nach Jugend und Schönheit sehnt. Grandios die Traumszene, in der die Königin der Dryaden ihn iin ihr Reich einführt. Da schwebt Olga Esina, eingehüllt in weiße Schleier, wie ein überirdisches Wesen über die Bühne. Am Rande steht der Ritter und mit einer kleinen Geste drückt er seine Sehnsucht aus. Schon allein diese kaum fünf Minuten lange Szene ist es wert, das Ballett anzusehen. Die Dryaden und Kitri (Liudmila Konovalova) in der Figur der Dulcinea umtanzen ihn, ihm bleibt nur, seine Hände nach dem Unerreichbaren, seinem Ideal, auszustrecken. Er ist es, der das Ewiggleiche der perfekt getanzten Figuren und Sprünge lebendig werden lässt. Sein drolliger Begleiter ist Sancho Pansa, hervorragend getanzt von Francois- Eloi Lavignac.

Die Haupthandlung wird allerdings nicht von Don Quixote getragen, sondern von dem Liebespaar Kitri (Liudmila Konovalova)und Basil (Davide Dato). Vor allem Davide Dato muss das schwere, fast unerreichbare Erbe von Nurejew stemmen. Denn er wird an der Sprungkraft und Ausstrahlung dieses Tanzgenies gemessen. Er macht seine Sache gut, perfekt. Gemeinsam mit Liudmila Konovalova meistert er all die Sprünge und Figuren, für die Nurejew berühmt war, glänzt im Solo und im Pas de deux. Beide gehen an die Grenze der Leistungsfähigkeit, strahlend in ihrer Perfektion. Und das ist genau die Crux dieses Abends: Perfektion kann sich abnützen, wird als gegeben vorausgesetzt, Kommt da nicht das gewisse Quentchen an Faszination hinzu, wird es schnell langweilig. So sieht man leicht gelangweilt bei den einzelnen Gruppentänzen, Paartänzen und Soli zu – alles gut einstudiert, allein der Spannungsbogen hängt bald durch. Wäre da nicht die Musik von Minkus – perfekt von Robert Reimer dirigiert. Er betont den Humor und die Ironie, die in dieser Musik stecken- und zaubert so manches Lächeln im Publikum hervor.

Begeisterter und verdienter Applaus für das ganze Ensemble, Blumen für Konovalova und Dato!

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Volksoper Wien: Richard Strauss, Salome

Inszenierung: Luc Bondy, für die Salzburger Festspiele 1992. Neu inszeniert von seiner Witwe Marie-Louise Bischofberger-Bondy

Was für ein Abend! Endlich ein Opernabend, wie man ihn schon lange nicht mehr erlebte. Nach den vergeigten Inszenierungen der Salzburger Festspiele 2023 , wie die „Hochzeit des Figaro“ unter der fürchterlichen Hand von Kusej oder der „Falstaff“ unter der noch schrecklicheren Regie von Christoph Marthaler, durfte das opernaffine Publikum endlich wieder aufatmen und eine Operninszenierung genießen – ja „genießen“, bei der alles stimmte: Das Orchester, geführt von der kundigen Hand Omer Meir Wellbers, die Sänger und Sängerinnen auf höchstem Stimm- und Spielniveau.

Bondys Inszenierung ist feinsinnig, humorvoll ohne respektlos zu sein. Er schreibt durchaus seine eigene Interpretation dem Werk ein, verliert dabei nie den Blick auf das Wesentliche. Für ihn ist Salome das verwöhnte Girl einer reichen Familie, sie ist all des unsinnigen Geschwätzes und der unerträglichen Festgelage überdrüssig. So schleicht sie sich von der Tafel weg und hört den verstörenden Gesang eines Mannes aus der Tiefe eines Brunnens. Er singt von einem Gott, der da kommen wird. Der Gott interessiert sie wenig, der Mann, der da singt, umso mehr. Und so befiehlt sie, ihn aus seinem Brunnengefängnis frei zu lassen. Von dem Moment an erwacht in dem gelangweilten Mädchen die Sexualität, die Gier nach Körperlichkeit. Je mehr sich Jochanaan von ihr abwendet, desto mehr ist Salome fasziniert. Was? – ihr soll etwas verwehrt werden, was sie begehrt. – das gibt es nicht! Und so beginnt eine der spannendsten Szenen des Abends: Astrid Kessler singt und bezirzt den Mann mit allen Tricks eines jungen Mädchens, das gewöhnt ist zu bekommen, was sie begehrt – einen Kuss. Tommi Hakala stimmlich und körperlich ein eindrucksvolles Mannsbild, wendet sich angewidert ab – aber, und da merkt man die subtile Personenführung Bondys – doch nicht so ganz angewidert, wie er als Gottesmann sein sollte. Das Spiel zwischen den beiden wird dringlich, erotisch, musikalisch von Omer Weir Wellber mit Fingerspitzengefühl und punktgenau dirigiert -, bis es fast zur Annäherung kommt. Die Spannung ist spürbar zwischen den beiden, doch dann löst sich Jochanaan aus dem erotischen Bann und kehrt zurück ins sein Verlies.

Weil Bondy allen orientalischen Schnickschnack wegließ, kommt keine Langeweile auf – dafür sorgt die urkomische Figur des Herodes – von Wolfgang Ablinger Sperrhacke köstlich persifliert. Sein leichter S-Fehler macht ihn fast zu einer commedia dell´arte Figur. Er glaubt nicht wirklich an seine Macht, fürchtet sich recht naiv vor dem Propheten, den er da eingesperrt hat. Sein Motto: Sicher ist sicher, besser ihn am Leben zu lassen, man weiß je nie, wozu er gut ist. Ein wenig tölpelhaft befiehlt er Frau und Tochter, merkt nicht, dass er ins Leere rennt mit seinem befehlerischen Gehabe. Das ist große Schauspiel- und Regiekunst: Eine Figur aus dem gewohnten Rollenschema zu heben, ohne sie ins Gegenteil zu verkehren. (Martin Kusej sollte sich da einiges von dem Regiegenie Bondy abschauen, aber er war ja nicht anwesend. Wohl aber Hinterhäuser, auch ihm möge dieser Abend eine Lehre sein!). Das Spiel zwischen Salome und Herodes gipfelt zunächst einmal in dem berühmten Tanz. Auch hier regiert die humorvolle Hand Bondys: Astrid Kessler legt eine Persiflage zwischen Ärobic, Streetdance und Schleiergewachel hin – für Herodes gut genug, um sich daran aufzugeilen. Danach verhandeln die beiden um den ihr zugestandenen Preis, der da ist: Der Kopf des Jochanaan. Den will Herodes ihr nicht liefern – wie gesagt, den Propheten braucht er vielleicht noch in der Zukunft, und zwar lebendig. So setzen sich die beiden an einen Schreibtisch, gerade als wären sie in einem Salon von Zuckerkandel oder Mahler-Werfel. Er bietet ihr Schmusck, sie verlangt den Kopf, er steigert sein Anbot, sie will den Kopf. Das ist durchaus komisch, wie sich der Handel da abspielt. Klar, Salome gewinnt. Man bringt ihr den Kopf in blutige Tücher gehüllt. Und da zeigt sich wieder einmal mehr die Regiepranke Luc Bondys und die Genialität des Komponisten Richard Strauss: Langsam, ganz langsam dämmert Salome, dass sie nicht wusste und nie wissen wird, was Liebe ist: „Liebe schmeckt öde nach Gewalt“, erkennt sie. Die Gewalt manifestiert sich in ihr – das dumme Girl ist nicht mehr, zurück bleibt eine junge Frau mit liebeleeren Händen und Lippen. In diese starke, berührende Szene schreit Herodes, plötzlich angewidert und machtbewusst, was er bis dahin nie war: „Tötet dieses Monster“.

Das Publikum dankte mit begeistertem Applaus den Sängern für die außergewöhnlichen Leistungen, allen voran Astrid Kessler für die lebendige und starke Interpretation der Salome, dem Dirigenten Omar Meir Wellber und dem Orchester der Volksoper Wien und dem Team rund um Marie-Louise Bischofberger-Bondy (Erich Wonder für die interessante, schlichte Bühne, Susanne Raschig für die dezent-zeitlosen Kostüme) und posthum natürlich Luc Bondy für eine Inszenierung ohne abgetroschene, allzu überdeutliche Anspielungen auf gesellschaftliche Um-Auf- oder Zusammenbrüche.

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Sommerausklang mit Joseph Lorenz- Friedrich Torberg: Schüler Gerber. Kultursommer Semmering

„Der Spätsommermorgen war lau..“ So begann Joseph Lorenz und entführte das Publikum in ein mortales Roadmovie durch das qualvolle Schülerleben von Kurt Gerber. Die Luft war nicht lau, eher schwül. Wie vor einem Gewitter. Aber der Himmel blieb klar.

Wer sich fragte, warum Joseph Lorenz ausgerechnet diesen Roman von Torberg für eine Lesung wählte, der bekam schon in den ersten Minuten die Antwort darauf: Das war keine „Lesung“ im üblichen Sinn. Jospeh Lorenz hatte den Text bearbeitet und daraus ein Kammerspiel gestaltet. Ein Ein-Mann-Stück, in dem er alle Rollen spielte. Hochdramatisch, unsympatisch in Ton und Geste Gott Kuper, der Lehrer, der sich auf das Früchtchen Kurt Gerber freut, weil er siegessicher weiß: „Dich kriege ich klein“. Er will ihn ruinieren, ihn tranchieren. Lorenz ist Gott Kupfer mit all den unsympathischen Zügen: Gott mit unbeschränkter Haftung, Zyniker von Teufels Gnaden. Mit höhnisch verzogenen Mundwinkeln bereitet Kupfer sein Opfer auf das Ende vor. Doch bevor er sein Opfer in den Krallen hat, inszeniert Lorenz kleine Einzelszenen als Kabinettstückerln. So etwa, wenn der Superschüler Benda mit stoischer Ruhe mitten im Matheunterricht begehrt, aufs Wasserklosett gehen zu dürfen und den verdutzten Kupfer aufklärt, dass man sterben kann, wenn man den Harn zu lange zurückdrängt. Komisch und skurril auch die Szene bei Professor Ruprecht, bei dem Kurt Gerber Nachhilfestunden nimmt. Da entdeckt er mit Staunen und Verzücken, dass Professoren auch nur Normalos sind. Sie essen ein Schinkenbrot – diese triviale Erkenntnis lässt Kurt Gerber kichern und das Publikum lachen.

Joseph Lorenz ist der Schüler Gerber, intelligent, sensibel, verliebt, leidet unter dem Leiden seines Vaters, ist verzweifelt bis zurm Irrsinn. Ein Irrsinn, der ihn überfällt, das Fenster öffnen lässt und ihn in die Tiefe lockt. Der Tod ist gnadenlos, der Erzähler erstarrt, das Publikum atemlos. Am Ende braucht Jospeh Lorenz eine gute Minute, um aus diesem Todesschock in die reale Welt zurückzukehren. Auch das Publikum ist wie erstarrt, bevor es dann in frenetischen Applaus ausbricht.

Und wir, die wir einmal mehr eine Probe der großartigen Schauspielleistung bekommen haben, verstehen nicht, warum man den Namen Joseph Lorenz vergeblich im Spielplan der Josefstadt sucht. Aber wir haben einen Trost: Wo Joseph Lorenz auftritt, da geschieht Theater, da ist Dramatik. Er braucht keine „Bühne“, er schafft sich sein eignes Theater, und da genügen ein Sessel und ein Tisch. Aus der „Lesung“ wird das „Ein-Mann- Theater“, ein Kammerspiel!

Hier noch einige Hinweise, wo Jospeh Lorenz zu erleben sein wird:

Musiktage Mondsee, 1. September: Edgar Allan Poe

Theater Akzent, 22. September : Schüler Gerber und 29. November : Werfel, Verdi

Bösendorfer Festival in den Kasematten, Wiener Neustadt: 5. Dezember: Thomas Bernhard, Der Untergeher

Weitere Informationen zum Kultursommer Semmering: www.kultursommer-semmering.at

Benedict Wells, Becks letzter Sommer. Diogenes

„Es sind Gespräche, die das Leben als lieblosen Unfug enttarnen“, schreibt Benedict Wells mitten im Roman. Aber eher sind es die Aktionen, die der Mensch/der Protagonist und die weiteren Figuren in diesem Roman setzen und das „Leben als lieblosen Unfug“ entlarven. Alles hängt von den Momenten ab, die unvorhersehbar sind. Aus solchen drechselt der Autor seinen Roman, der nicht sein erster, wie es allgemein heißt, sondern sein zweiter ist.

Benedict Wells spielt in diesem Roman das Mozart-Salieri Thema durch: Der genialisch Begabte gegen Mittelmaß. Eine Spannungsbogen, der bis zum Schluss den Plot trägt. Dazu kommt Wells großes Thema, das er in den späteren Romanen („Vom Ende der Einsamkeit“) mit großer Virtuosität durchspielt: die Liebe. oder hier eher: die Unfähigkeit zu lieben.

Beck ist um die 40, widerwillig Musik- und Deutschlehrer an einem Gymnasium. Er hat die Nase voll von seinem Job, aber er hat keine Alternative. Früher spielte er in einer Band, mittelmäßig, mit mäßigem Erfolg. Das Mittelmaß verfolgt ihn, lässt ihn mit dem Leben unzufrieden werden. Der Schüler Rauli Kantas aus Litauen hat musikalisches Genie im Übermaß. Beck träumt davon, ihn zu managen und groß herauszubringen. Doch auch dieser Traum platzt – Beck wird aus dem Vertrag ausgeschlossen.

Angereichert ist dieser „Antientwicklungsroman“ – denn Beck ist am Ende der, der er immer war: ein mittelmäßiger Musiker, nur mit dem Unterschied, dass er resignierend einsieht: den großen, genialischen Einfall wird er nie haben – angereichert also mit Texten aus der Rock- und Popmusik, besonders von Bob Dylan. Sein bester Freund Charlie, ein Schwarzer mit Macken und durchgeknallten Visionen, will unbedingt seine Mutter in Istanbul besuchen. Dass er unter der Karosserie Drogenpäckchen versteckt hält, die er in die Türkei schmuggeln soll, erfährt Beck erst während der Fahrt, an der auch Rauli teilnimmt. Weil Charlie das Geld für die Drogen im Alleingang kassieren will, wird ihm von den Drogengangstern ein Finger abgehackt. Nach Kurzaufenthalt in Istanbul geht die Reise zurück, Charlie stürzt mit dem Flugzeug ab, Rauli startet seine große Karriere, wird drogenabhängig und ziemlich unglücklich. Beck kündigt in der Schule, siedelt in ein kleines Dorf in Süditalien und findet dort ein wenig Frieden. Bis ihn Rauli, nun gefeierter Star, Weiber- und Gitarreheld, besucht. Beiden wird bewusst, dass das Leben nur „ein sinnloser Unfug“ ist. Rauli haut bei Nacht und Nebel mit Becks Lieblingskatze ab und hinterlässt als Geschenk seinen größten, unveröffentlichten Hit. Was Beck damit machen wird, bleibt offen.

Mag schon sein, dass Benedict Wells zu viele Motive auf einmal hineinpackte: Drogen, Musikkarriere, Freundschaft, Verlustängste und dazu noch zwischendrin eine Autorenfigur, die Beck nach seiner Vergangenheit ausfragt. Alles ein bisserl zu viel, dennoch aber ein spannender Roman.

www.diogenes.ch

Grafenegg, 25. August 2023: Mahler Chamber Orchestra, Daniil Trifonov, Daniel Harding.

Es war einer dieser Sommernächte, die Menschen mit heiterem Sinn erfüllt. Im Park von Grafenegg lagerten sie und picknickten oder lasen und lachten und redeten…Die Stimmung war erwartungsvoll. Über dem machtvollen Wolkenturm stieg die zarte Silhouette des Mondes auf. Grillen zirpten und hin und wieder hörte man einen Vogel im Schlaf zwitschern.

© Silvia Matras

„Nein, Sie müssen keine Angst vor der Musik eines Komponisten haben, der noch lebt“, meint Ursula Magnes in ihrer humorvollen Einleitung. Der noch lebende Komponist ist George Benjamin (geb. 1960), und schrieb mit „Concerto for Orchestra“ (2019-2020) ein „elegantes Divenkleid für Orchester“ – so wieder Ursula Magnes. Nun, das Divenkleid wirkte ein wenig ramponiert, so als hätte die Trägerin eine Nacht lang wild durchgetanzt. Jedenfalls führte Daniel Harding das Mahler Chamber Orchestra mit sicherer Hand durch das Klanggewirr. Manchmal aggressiv, dann doch auch ein wenig romantisch, hin und wieder glaubte man Vögel zwitschern zu hören – insgesamt eine Musik, die aufweckt und durchaus gut hörbar war. Ursula Magnes hatte nicht zu viel versprcochen.

Danach folgte das mit Spannung erwartete „Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op.54 (1841-45) von Robert Schumann, am Klavier der Starpianist Daniil Trifonov. Ihm eilt der Ruf voraus, ein „Wahnsinniger “ am Klavier zu sein. An diesem Abend wirkte er gezähmt, in sich gekehrt. Innig, zärtlich klangen die flinken Triller im „Allegro affettuoso“ und ebenso feinsinnig erklang das „Andantino grazioso“. Selbst im „Allegro vivace“ ließ der Pianist immer spüren, dass Schumann in diesem Konzert die Liebe zu seiner Frau Clara in Noten gefaßt hatte. Daniel Harding lenkte mit kundiger Hand durch das ausgeklügelte Zusammenspiel zwischen Klavier und Orchester. Ein Abend, der ganz zu dieser Sommerstimmung passte. Obwohl es leicht zu regnen begann, spielte Trifonov als Zugabe Bach.

Nach der Pause ging das Konzert im Auditorium mit der Symphonie Nr.3 F-Dur op. 90 von Johannes Brahms weiter. Brahms schrieb dieses Werk mit 50 Jahren (1883), und man sagt, es sei die Essenz seiner Werke. Die Uraufführung im Wiener Musiverein war ein Triumph. Clara Schumann schrieb in einem Brief an Brahms: „Jeder Satz ist ein Juwel.“ Dirigent und Orchester in Höchstform entführten das Publikum in eine jubelnde Natur, ließen einen Waldzauberteppich erklingen, dass am Ende viele meinten, diese Symphonie noch sie so herzergreifend gehört zu haben. Langer Applaus und standing ovations belohnten Dirigent und Orchester für die großartige Leistung.

www.grafenegg.com

„Wir haben es nicht gut gemacht“ -Ingeborg Bachmann -Max Frisch. Salzburger Festspiele 2023

Mit: Lina Beckmann und Charly Hübner. Textfassung: Bettina Hering

Zwei Tische mit nötigem Abstand. Keine Videos, manchmal war die Stimme der Callas zu hören. Sonst : Nur die Briefe der beiden Schriftsteller, die miteinander nicht leben konnten, aber ohne einander auch nicht. Bettina Hering traf eine kluge Auswahl aus der Unzahl der Briefe von 1958 bis 1963. Was schon bald auffiel: Hering kam es nicht darauf an, die Liebe der beiden zu skandalisieren, auch nicht zu dem Mythos zu machen, wie sie bald in den Medien und auch in der Literaturberichterstattung wurde. Klug wählte sie Briefe aus, die beiden gerecht wurden – also nicht Max Frisch als „Mörder“ und Bachmann nicht als Exaltierte porträtierten. Das Publikum (im ausverkauften Landestheater) erlebte und fühlte mit, wie zwei Menschen um eine Liebe kämpften, die nicht gelingen konnte. Weil sie beide übersensibel auf Veränderungen im Gegenüber hellhörig waren, weil sie beide Schriftsteller waren und Schreiben eine einsame Angelegenheit ist. Der Kampf war auf beiden Seiten gleich mühevoll. Frisch war eher der Abwägende, der nach Gründen suchte, wie die Liebe doch Bestand haben könnte, sie – eher die Verzweifelte, die in der Liebe nicht heimisch werden konnte, weil sie um ihre Selbstbestimmung fürchtete. Sie war es auch, die die Heirat ablehnte. Sie war es, die von ihm die Briefe zurückverlangte, sie war es, die immer wieder selbstzerstörend fragte, verneinte, zögerte, verzweifelte. Sie war es auch, die 1963 die endgültige Trennung verlangte.

Er veröffentlichte 1964 den Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Sie glaubte sich in der Figur Lila wiederzuerkennen und war tief verletzt. Aber das ist eine andere Geschichte, die an diesem Abend nicht aufgerollt wurde.

Das Publikum dankte mit langem, begeistertem Applaus für einen Abend, der so angenehm aus dem Rahmen der diesjährigen Festspiele fiel – durch seine Wahrhaftigkeit, Textbezogenheit, Schlichtheit – durch das Fehlen eitler Regieeinfälle. Es bräuchte mehr solche uneitlen Abende, um den Festspielen wieder Glanz zu verleihen.

Die Briefstellen wurden entnommen aus: Ingeborg Bachmann-Max Frisch „Wir haben es nicht gut gemacht“. Der Briefwechsel. Hg von Hans Höller, Renate Langer, Thomas Strässle, Barbara Wiedemann. Piper Verlag/ Suhrkamp Verlag 2022

http://www.salzburgfestival.at

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück. Klett-Cotta

Stine ist gerade drei Jahre alt, als die Mauer fällt. Sie fühlt sich als Kind der DDR, ihre Familie allerdings schweigt über diese Zeit. So kramt die heranwachsende Stine in Fotoalben, Zetteln, Notizbüchern und in ihren eigenen ERinnerungen, um mehr über die Vergangenheit und die Verstrickungen ihrer Familie im System zu erfahren. Was die Autorin da an Protagonisten auffahren lässt, kennt man eigentlich schon hinlänglich aus diversen Familien-bzw Geschichtsromanen aus der DDR-Zeit: Der über alles geliebte Großvater – eine in diesem Literaturgenre sehr beliebte und oft verwendete Person -, der fest überzeugt ist vom System und dem DDR-Staat. Die strenge, finstere Großmutter , die auf den Fotos einst ein lustiges, fesches Mädl war, das herzlich lachen konnte. Wie ist sie zu der alten Vergrämten, Versteinerten geworden? Die Mutter haut die Kinder, sie haben Angst vor ihr. Das ist gut so,denn sie sollen vor allem eins lernen: gehorchen. Als Stine eigene Kinder hat, sind Schläge ganz und gar verboten! Dann sind da so seltsame Erinnerungen an Nazis, zuerst verdeckt, dann offen, an Kindereziehungslager, an Stasiakten – kurz, das ganze DDR-Programm. Das Lesen wird durch nicht deutlich gemachte Zeitensprünge, erschwert. Aber in Summe ist das Buch für alle, die von der DDRvergangenheit nicht genug lesen können, empfehlenswert.

http://www.klett-cotta.de

Sibylle Grimbert, der letzte seiner art. Eisele Verlag

Aus dem Französischen von Sabine Schwenk

Sibylle Grimbert lässt den Leser hautnah miterleben, wie es sich anspürt, wenn eine Species ausstirbt. Wenn wir in den Medien vom Artensterben lesen oder hören, sind wir kurz betroffen, aber gleich darauf wenden wir uns dem Alltag zu. Anders im Roman Grimberts: Wir wissen, „es“, dieses Tier ist „der Letzte seiner Art“ und es wird nach ihm keinen Riesenalk mehr geben. Indem die Autorin dieses Aussterben eines seltenen und einmaligen Tieres einen ebenso seltenen, viele würden sagen: seltsamen Menschen erleben lässt, beteiligt sie uns „direkt am Geschehen“. Keine Doku, aber auch keine „Betroffenheitsliteratur“. Sondern:

Es geht um den Riesenalk. – „Nie gehört“, sagen viele. Ja klar, denn er und seine Artgenossen sind Mitte des 19. Jahrhunderts ausgestorben. Erschlagen von Menschen, die alles von dem Vogel verkauften, Federn, Schnabel, Fleisch. Der circa 85cm große Vogel hatte zwar Flügel, konnte aber nicht fliegen. Dafür gut schwimmen. Dennoch war er auch für Eisbären und Orca eine leichte Beute.

1835 landet der französische Zoologe Gus mit einer Fischfangflotte auf einer kleinen Insel vor Island und wird Zeuge, wie systematisch alle Riesenalks, die dort friedlich lebten, von den Matrosen erschlagen werden. Ein Riesenalk verfängt sich im Netz und Gus rettet ihn. Er beschließt ihn zu behalten, um ihn zu studieren und ihn, wenn er von seinen Wunden und dem Schock geheilt sein wird, nach Lille ins zoologische Museum zu schicken. Doch mit der Zeit wird der Vogel ihm vertraut, er gibt ihm den Namen Prosp. Immer wieder zeichnet er ihn, sein schönes Gefieder, seinen Riesenschnabel. Aus dem verschreckten Vogel wird bald ein Wesen, das zu Gus Vertrauen fasst. Die Jahre vergehen, Gus heiratet und wird Vater zweier Kinder. Prosp wird zum Familienmitglied. Doch immer nagt an Gus die Frage, ob es für Prosp nicht doch noch ein Leben unter Seinesgleichen geben könnte. Alles Suchen und Fragen ist vergeblich – Prosp ist und bleibt der Letzte seiner Art. Gus wird immer mehr zum Eigenbrötler, zieht von Frau und Familie weg in die einsamste Ecke Nordislands, baut eine Hütte und lebt nur mit und für Prosp. Wieder vergehen Jahre, Gus wird alt und krank. Eines Tages verlässt Prosp ihn, taucht ein in die Wellen des Meeres und kehrt nicht mehr zurück. Gus sendet ihm einen Abschiedgruß nach. Später besteigt er ein Schiff, das ihn zu seiner Familie zurückbringt.

Die Autorin betont, dass die Geschichte von der Freundschaft zwischen einem Menschen und einem Riesenalk erfunden ist, basierend auf vielen Fakten der Forschung. Faszinierend werden wir Zeugen, wie sich Mensch und Tier einander annähern, gegenseitig Gewohnheiten übernehmen, bis so etwas wie Freundschaft entsteht. Umso intensiver trifft uns dann der Abschied, das Wissen, er ist der Letzte seiner Art. Ohne das Tier zu vermenschlichen, beschreibt Sibylle Grimbert sein Wesen, seine Vorlieben, seine Gefühle, die Zutraulichkeit, die Verletzlichkeit. Am Ende ist nicht irgendein Vogel ausgestorben, sondern ein Tier namens Prosp mit all seinen Eigenschaften, die wir kennenlernen und lieben durften.

Für diesen Roman wurde Sibylle Grimbert mit dem Prix Goncourt des animaux ausgezeichnet.

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Schnitzler, Spiel im Morgengrauen. Spielort: Semmering. Erzähler und Spielleiter: Joseph Lorenz

Aus dem regenverhangenen Wien ging es hinauf auf den sonnigen Semmering, zum Panhans. Joseph Lorenz führte das Publikum durch die Erzählung von einem, der aus Spielsucht und Scham den Tod wählt, als wäre es ein Stück Theater: Spannung, Dramatik pur!

Otto Bogner, der aus Not in die Firmenkassa gegriffen hat und den Betrag – tausend Gulden – nicht rechtzeitig zurückzahlen kann, bittet seinen ehemaligen Kameraden, den Leutnant Willi Kassda, um Hilfe. Das Geld muss am nächsten Morgen in der Kassa sein. Schnitzler schildert nun mit tiefem Verständnis um menschliche Untiefen, wie jeder durch seine eigene Hölle geht: Bogner, weil er das Geld nicht rechtzeitig zurückzahlen kann. Willi, weil er am Spieltisch die Kontrolle verlor und aus Gier die schon gewonnenen 9.000 Gulden verspielt. Und letztlich erlebt der selbstbewusste Frauenheld eine weitere Hölle: die Erniedrigung durch eine Frau. Was bleibt als Lösung ist der Selbstmord, aus Angst vor der Schmach, aus dem Regiment ausgestoßen zu werden.

Es ist immer wieder ein Erlebnis, zu hören und zu spüren, wie Jospeh Lorenz die Charaktere herausarbeitet, die Dramatik der Szenen durch Tempo steigert, die Hoffnungslosigkeit des Leutnants nachvollziehbar macht, wenn dieser erkennen muss, dass es für ihn keinen anderen Ausweg als den selbstgewählten Tod gibt. Fein ziseliert Lorenz auch die Nebenfiguren: den Onkel, der helfen möchte, aber nicht kann, den Burschen des Leutnants, der hellsichtig durch eine barmherzige Lüge den Ruf des Toten schützt und dem Onkel eine bittere Erkenntnis spart. Und letztlich die einzige Frauenfigur in dem Spiel: Leopoldine Labus. Einst eine Rosenverkäuferin, die sich in den jungen Leutnant verliebt hat, mit ihm eine zärtliche Nacht verbringt. Doch er – immun für Feinheiten der Liebe – bezahlt sie für diese Nacht. Dafür rächt sie sich. Ohne Erbarmen! Ja, auch Frauen können das, und Schnitzler hat dafür viel Verständnis. Lorenz ebenso. Seine Leopoldine lässt er in allen Versionen der erotischen Nemesis auftreten. Es ist alles ein Spiel! Ein Spiel mit tödlichem Ausgang.

Weitere Vorstellungen im Panhans am Semmering – unter http://www.kultursommer-semmering.at

European Union Youth Orchestra zu Gast in Grafenegg am 29. Juli 2023

Es war ein Fest in den unterschiedlichsten Musikrichtungen. Im „Prélude“ 18h spielten junge Geigenvirtuosen sechs Miniaturen von Pauline Viardot (1821 -1910), einer der berühmtesten französichen Opernsängerinnen und Komponistinnen ihrer Zeit. Berührend die „Romance“, gespielt von Emilie Chigion, und die „Berceuse“, gespielt von Marta Dettlaff . Darauf folgte als Kontrastprogramm „Strange Ritual“ von Philippe Manoury, aktueller Composer in Residence. Es war ein Ausflug ins geordnete Chaos, spannend zu hören und anzuschauen. Besonders die Künstlerin an den 12 Gongs, die ein fein abgestimmtes Klangduett mit der führenden Violine spielte. Zur Erholung dann das wunderbar zarte Stück „Introduction et Allegro“ von Maurice Ravel. An der Harfe: Clara Gatti Comini, sehr einfühlsam.

Langsam senkte sich die Dämmerung über den Wolkenturm. Der Mond stieg auf – er blähte sich fast zum Vollmond auf. Und es begann einer dieser (wetterbedingt selten gewordenen) Abenden im Wolkenturm mit dem European Youth Orchestra, Julia Fischer und Sir Antonio Papano. Sie entführten uns in die Klangwelt Beethovens, ins Konzert für Violine und Orchester, D-Dur, Opus 61. Bewundernswert, wie stilsicher Julia Fischer ihren Part beherrschte, die Übergänge von festem, entschlossenem Tempo zu äußester Zarheit und Innigkeit. Papano „gehorchte“ ihr vollkommen, legte nur einen zarten, orchestralen Klangteppich unter ihr Spiel. Im „Larghetto“ ließ Papano viel Raum für Stille, die Geige klingt, als würde sie eine ferne Geliebte rufen. Dann ohne Pause das furiose Solo im Rondo. Lange Stille, dann brach begeisterter Applaus los. Als Zugabe spielt Julia Fischer „Caprice“ von Niccolò Paganini.

Julia Fischer,, Buchbinder gratuliert., das Orchester (Ausschnitt) ©Silvia Matras

Nach der Pause ertönte der markante Ruf „Ecce homo“ aus „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss. Doch irgendwie verloren sich die Exaktheit und Schärfe in einem etwas allzu ineinander verwobenen Klangteppich. Dafür gab es als Zugabe die Ouvertüre zu Verdis „Macht des Schhicksals“, und die riss die Zuhörer von den Sesseln! Vor Spielfreude sprühte das junge Ensemble, als es nach dem Ende noch ein Ende hinzufügte: Zu ausgelassener Klezmermusik tanzten sie, umarmten einander und versprühten überschäumende Freude. Unwillkürlich erinnerte man sich an die legendären Konzerte von „El Sistema“.

Langer Applaus als Dank für dieses besondere Fest!!

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Kultursommer am Semmering: Andrea Eckert präsentiert Georg Kreisler

Begleitet von den Wladigeroff Brothers und Otmar Klein, der mit Rat und viel Information den Abend mitgestaltete.

Endlich wieder Andrea Eckert, die viele vermissen! Und endlich wieder Georg Kreisler in einer stimmigen, künstlerisch hoch qualifizierten Darbietung. Wer Andrea Eckert kennt, der weiß, dass sie die höchsten Anforderunen an sich stellt und das Publikum die höchsten Erwartungen erfüllt sieht. Man denkt an ihre „Callas“ oder „Rosa“ – jüngst noch im Nestroyhoftheater/Hamakom zu sehen.

Im edlen Smoking, die Haare hoch gesteckt, verkörpert sie eine Diseuse aus dem vorigen Jahrhundert, aus der Zeit, als Juden Wien verlassen mussten, wenn sie es noch konnten. Ohne Larmoyanz erzählt Andrea Eckert von Kreisler, der mit 17 Jahren gemeinsam mit seiner Familie in die USA emigrierte. In Wien war der Tod zu Hause – „Der Tod, des muas a Weana sein..“ singt Kreisler/ Eckert – genau mit dem nötigen Mix aus Wiener Schmalz und Hinterfotzigkeit! Drüben war es nicht leicht – und Kreisler fragt: „Meinen Sie, es ist leicht? – Man muss nur wissen, man hat niemals ein Zuhause“. Diese bewußt gemachte Heimatlosigkeit lässt den jungen Kreisler einfacher die Schwierigkeiten „drüben“ und dann wieder „herüben“ überstehen. Er geht nach New York, aber keiner will seine traurigen Lieder hören. Also stellt er um auf Humor, abgrundtiefen Humor, der tief aus der jüdischen Seele kommt. Und er hat Erfolg. Natürlich dürfen jetzt nicht die bekannten Zungenbrecherlieder fehlen, …“Der Putz war da, der Kohn war da…“ und sie diskutieren. Da glänzt Andrea Eckert mit ihrer hinreißenden, humorvollen Darbietung.

Nach dem Krieg kehrt Georg Kreisler nach Österreich zurück – aber er ist nicht willkommen und er riecht denselben Mief wie vor dem Krieg. Berührend in den Liedern „Verlassen“ und „Mein kleines Mädele“. Doch weil der Abend nicht traurig enden soll, entlässt Andrea Eckert uns mit dem Hit „Mein Mann will mich verlassen – Gott sei Dank!“

Für den mitreißenden Abend gab es ganz, ganz herzlichen Applaus!

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Eine Schurkengeschichte. Aus dem argentinischen Spanisch von Erich Hackl

Ich nenne das Buch nicht „Roman“, wie esauf der Rückseite des Covers betitelt wird, sondern fiktive Biografie. „Fiktiv“ deswegen, weil der Erzähler oder die Figur, die die einzelnen Kapiteln zusammengestellt hat, ein vom Autor ersonnener Journalist ist, der sich verpflichtet fühlt, die Fakten über Fritz Mandl zusammenzutragen und aufzuschreiben. Dabei mischt sich Erdachtes mit Wahrem, was den Leser -also mich – des öfteren verwirrt hat.

In jedem Kapitel lässt der Autor eine Person reden, die mit Mandl zu tun hatte. Die Begegnungen gehen kreuz und quer von Europa über Frankreich bis Argentinien, die zeitliche Abfolge vernachlässigend.

Der Jude Fritz Mandl war im 2. Weltkrieg eine schillernde Persönlichkeit und zählte zu den Reichsten des Landes. In seiner Fabrik in Hirtenberg im Süden Wiens wurden Waffen und Muntion erzeugt, die Mandl an alle Länder und Potentaten, die daran interessiert waren, lieferte. Obwohl befreundet mit allen politischen Playern des Zweiten WEltkrieges, insbesonders mit Mussolini und Graf Starhemberg, wurde er von den Nazis enteignet, hatte aber seine Schäfchen schon längst im Ausland ins Trockene gebracht. Über Frankreich emigirierte er nach Buenos Aires, wo er mit Peron eng befreundet war. Den Argentiniern gaukelte er vor, eine eigene Waffenfabrik errichten zu wollen, was er aber nie realisierte.

In seinem Privatleben haben Frauen eine große Rolle gespielt. Zu allgemeiner Bekannheit hat es die Ehe mit Hedy Lamarr gebracht. Sie floh ja bei Nacht und Nebel aus den ehelichen Fesseln nach Amerika, wo sie schnell als Schauspielerin Karriere machte.

Fritz Mandl war eine schillernde Persönlicheit, wusste sein Vis à Vis von seinen kühnen Plänen zu überzeugen, auch wenn sie sich meist in Schall und Rauch auflösten. Aber Mandl wäre nicht der geworden, der er war – ein charmanter Schurke – wenn seine Partner/Gegner nicht alle mitgespielt hätten. Mitgespielt, weil sie sich von Mandl enormen Profit erhofften. Mandl spielte gekonnt und klug auf dem menschlichen Klavier der Gier, der Gier nach Macht und Geld.

Schade nur, dass sich Eduardo Pogoriles nicht zu einer klaren Struktur und einem geordneten Erzählablauf durchringen konnte. So aber kämpft sich der Leser durch Nebel und verwischte Konturen durch, ohne wirklich zu einm klaren Bild zu kommen.

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Jochen Gutsch und Maxim Leo: Frankie. Penguin Verlag

Ich weiß ein Remediumbuch, das mich nach der Lektüre von Edelbauers Flüssigem Land (s. den Beitrag auf meiner Webseite) wieder ins „Equilibrium“ bringt – auf gut Deutsch: Nach der Lektüre von Edelbauers „Flüssigem Land“ brauchte ich ein Buch, das mich die Anstrengung vergessen lässt – und das ist: „Frankie“, die Geschichte eines ziemlich ramponierten Dorfkaters, der am großen Misthaufen unter einer ausrangierten Badewanne sein Leben fristet. Das ändert sich, als er am „verlassenen Haus“ vorbeistreicht. Da werkt zu Frankies Üverraschung ein Mensch drin, „der mit einem Faden spielt, der von der Decke hängt“. Dem Leser wird gleich klar, der Mensch will sich erhängen. Aber es kommt ihm Frankie dazwischen, der „Menschisch besser als Katzisch“ spricht und überhaupt ein überaus Schlauer ist. Wie sich die Freundschaft zwischen dem Menschen, der sich Gold nennt. und Frankie entwickelt, ist einfach klug, witzig und auch ein wenig philosophisch beschrieben. Ein Buch zum Gernhaben!!!

http://www.penguin-verlag.de

Als ich den Roman endlich zu Ende gelesen hatte, brauchte ich ein flüssiges Buch, das mich ins literarische „Equilibrium“ wieder zurückstimmt. Equilibrium ist eines der vielen gestelzten Ausdrücke, die die Autorin gerne verwendet. Überhaupt lässt sie den Leser gerne ratlos zurück, ratlos, weil er nicht so recht weiß, was das Buch soll. Anspielungen an literarische Vorbilder gibt es genug, und jeder wird sie leicht orten: Homer, Odyssee: Die Protagonistin Ruth Schwarz irrt in Österreich umher, vom Wecheselgebirge ins Kamptal und zurück. Sie kommt einfach nicht an, wie einst Odysseues. Und als sie endlich ankommt, ist alles nicht so , wie es sein soll. Da beginnen die nächsten Literaturschnitzelvorbilder durchzuschimmern: Eva Menassse, Dunkelblum und Elfriede Jelinek: Rechnitz. Es gibt ein Loch, wo einst im 2. Weltkrieg Zwangsarbeiter/Juden verhineingeworfen wurden. Das Dorf hat ein Schloss – Kafka lässt grüßen! Dort throhnt eine Gräfin, die alles in der Hand hat. Doch sie ist keine echte Gräfin, eigentlich sind alle nicht wirklich, nicht das, was sie vorgeben. Somit haben wir es also auch mit der in der jüngsten Literatur schon ein wenig abgenützten Frage nach der Identität zu tun. Dass alle Bewohner das Loch verschweigen, es nicht wahrnehmen wollen, nach dem Motto, was ich verschweige, das gibt es nicht, ist auch schon ewig den Österreichern nachgesagt worden. Warum eigentlich nur den Östereichern.? „Lustig, witzig, unterhaltsam“ soll das Buch sein – es hat ja auch Preise bekommen, die bekommt niemand von nix – , aber ich möchte gerne wissen, wer bei der Lektüre gelacht oder auch nur geschnmunzelt hat.

Bitte ein „Equilibrium-Buch“!!! Wer kann mir eines empfehlen? Ich glaube, ich habe schon eines gefunden. WElches das ist, verrate ich in meinem nächsten Beitrag.

Anthony McCarten: GOING ZERO. Diogenes Verlag

Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf Allié

McCarten gelang wieder einmal ein Thriller von brennender Aktualität. Er weckt uns Naivlinge aus den süßen Träumen der analogen Welt auf und zeigt uns, was heute digital und sonst noch irgendwie künstlich alles möglich ist. Mit dem Fazit, dass der Leser am Ende erkennen muss: Was sind wir doch alle zusammen für Naivlinge, wenn wir an den Datenschutz glauben. Wenn wir meinen, wir sind auf der sicheren Seite, können nicht ausspioniert werden. Von wegen! Auch wer keinen Computer anrührt, kein Smartphon verwendet, ist für diejenigen, die im Netz die Macht haben, ein zur Gänze durchleuchteter Mensch, Wer denkt: „Ach Gott, die armen Chinesen, die sind ja total kontrolliert“ und meint, er selber sei vor allen Nachstellugen staatlicher und sonstiger Mächte geschützt, der IRRT!!

Cy Baxter, ein in der Welt von Silicon Valley Vertrauter, reich geworden durch digitale Machenschaften, lanziert den Superdeal seines Lebens: Er möchte beweisen, dass seinem Überwachungssystem keiner entkommt, und sei er noch so gefinkelt. Zehn Personen haben sich für den Test gemeldet: Sie sollen für 30 Tage versuchen, unauffindbar zu sein. Gelingt es den Leuten von Cy Baxter, alle zehn innerhalb der Zeit zu orten und zu stellen, dann geht der Deal auf und er kann mit der CIA fusionieren und somit ein unumschränkte Überwachungsimperium errichten. Schnell sind die ersten neun gefasst, bleibt nur noch eine Person: Kaitlyn Day, eine Bibliothekarin. Sie sollte kein Problem darstellen, da sie ganz offensichtlich noch in der analogen Welt lebt. Doch sie lehrt Cy Baxter das Fürchten, entkommt intelligent und flink allen Versuchen, sie zu fassen. Gegen Ende bekommt der Thriller noch eine neue, überraschende Wendung.

Das Buch ist die ersten hundert Seiten ziemlich technisch und langweilt. Wen aber diese technischen Details nicht interessieren, kann leicht darüber hinweglesen und steigt dann voll und ganz so ab Seite 80 ein. Dann wird das Buch niemand mehr weglegen. Die Frage, die Mc Carten in dem Buch stellt, ist aktueller denn je: Wie weit darf die Überwachung des Bürgers unter dem Mäntelchen der Sicherheit gehen? Darf der Staat dem Bürger seine individuelle Freiheit nehmen, immer unter dem Vorwand, diesen vor möglichen Anschlägen zu schützen? Sind wir, Ottonormalverbraucher schon so an das „Sicherheitsdenken“ gewöhnt worden, dass uns unsere individuelle Freiheit nichts mehr wert ist? Solche und ähnliche Fragen stellt der Autor, die Antwort sollte sich der Leser geben.

http://www.diogenes.che

Festspielhaus St. Pölten: Rachid Ouramdane: Corps extrêmes

Choreographie: Rachid Ouramdane. Musik: Jean – Baptiste Julien, Video: Jean Camille Golmard, Licht: Stéphane Graillot, Bühne: Sylvain Giraudeau.

Was für ein freudvoller und spannender Abschluss der Saison! Alles spielte mit: Das Wetter benahm sich gut: Zuerst Sonne und Wonne, das Gewitter wartete, bis die Aufführung begann. Ab 16h hieß es: Gartenfest für alle auf dem Vorplatz des Theaters. Während der unernsten Einführung zum Stück wurde das Publikum zum Tanzen, Pseudoklettern aufgefordert. Und viele machten mit!

So bestgelaunt begab man sich in den Saal, nichtsahnend, welch fulminante Performance einem den Atem rauben wird.

Licht aus im Saal, es öffnet sich ein Gebirgspanorma mit schwindelnden Abgründen. Einer wagt es, über das von einer Bergspitze zur anderen gespannte und schwingende Band (die Fans nennen es „slackline“) zu balancieren. Du gehst mit ihm, schwingst, siehst unter dir die Abgünde – vielleicht tausend Meter tief oder mehr! Dazu erzählt der Artist – sein Name bleibt als einer der vielen in der Gruppe ein Geheimnis – welche Ängste einerseits und welches berauschende Gefühl der Freiheit ihm dieser Sport bereitet. Dazu hat Jean-Baptiste Julien eine dezente Musik komponiert, nicht effekthaschend, sondern passend zur Aktion, die Stille, Konzentration und Horchen auf die Natur verlangt.

Aus den Abgründen entsteht eine Kletterwand, wie man sie kennt. Männer und Frauen in legerer Alltagskleidung wirbeln über die Bühne, die Wände hinauf, die Wände hinunter, bilden Menschentürme, fliegen durch die Luft, werden im richtigen Moment aufgefangen. Alles ist auf die Hundertstelsekunde abgestimmt. Vertrauen, sich fallen lassen dürfen – ist die Botschaft. Eine Künstlerin erzählt, wie sie nach einem verheerenden Sturz, bei dem sie selbst unverletzt blieb, aber den unter ihr stehenden Fänger schwer verletzte, aufhören wollte. Angst schnürte sie ein, Angst jemanden oder sich selbst zu verletzen. Sie hat sie überwunden.

Der Abend schwingt zwischen Realität und Irrealität – als Zuseher verliert man den Boden, fliegt, träumt, schrickt auf, hält den Atem an. Man ist mitten drin, bangt, ob auch die nächste Kür gut gehen wird. Doch die Gruppe selbst scheint angstbefreit, tänzeln zwischen ihren Flügen durch die Luft, scheinen wie Kinder einander im Kreis zu verfolgen – abkühlen, neue Kraft schöpfen für den nächsten waghalsigen Flug in die Kletterwand oder auf die Schulter der Kollegen.

Das Publikum bedankt sich bei dieser tollen Truppe mit lang anhaltendem Applaus, Bravos und vielen spitzen Schreien. Ein toller Abschluss einer gelungenen Saison!!

http://www.festspielhaus.at

Mike Markart: Venezianische Spaziergänge. Edition Keiper

Mike Markart wohnt in Venedig, schreibt und spaziert durch Venedig, macht ungeschönte, interessante Schwarzweiß-Fotos, trinkt gerne eine Ombra oder auch einen guten Wein. Seine „Erzählungen“ sind Impressionen, die er am Weg mitnimmt – also kein „Reiseführer“. Wohl kann man den ein oder anderen Tipp finden, z.B. über die Gondelwerft „Tramontin“ , die am Ponte Sartorio liegt. Oder den „Campo Santa Marherita“, den von der Jugend bevölkerten Platz.

Allerdings: Die Angaben sind wahrscheinlich absichtlich vage gehalten, damit eben nicht allzu viele Touristen den Hinweisen nachgehen. Denn Markart ist ein Eigenbrötler, der sich nicht gerne unter die Menge mischt, wie alle, die noch in Venedig sesshaft sind. Das werden immer weniger. Hoffentlich bleibt der Autor und schreibt weiter über den Zauber der Stadt.

Die „Veneziaischen Spaziergänge“ lesen sich wie ein Skizzenbuch – man glaubt manche Orte zu erkennen, aber die Linien bleiben verschwommen, nur leicht hingehaucht. Sie versetzen den Leser in eine träumerische Stimmung, wie Venedig im Nebel, so sind die Erzählungen: Über allen liegt ein leichter Schleier des Unscharfen.

http://www.editionkeiper.at

Christine Fischer: Glüscksorte in Dresden. Droste Verlag

Untertitel: Fahr hin & werd glücklich

Genau 80 Tipps mit hübschen Fotos und einem sehr persönlichen Text. Man merkt, die Autorin kennt und liebt ihre Stadt. In der großen Auswahl findet jeder einige Tipps für sich. Mir persönlich gefielen folgende Tipps: 33, Der Kulturpalast. Von außen – Architektur aus der Vorzeit, also nicht sehr ansprechend. Aber innen – tolle Akustik, super Musikprogramm. 27 – Die Brühlsche Terrasse – die findet man zwar in jedem Reiseführer, aber dennoch: Das Café lockt mit herrlicher Aussicht, Kuchen und Kaffee vom Feinsten und vor allem mit einem äußerst freundlichen Personal! 67 – Die Parkeisenbahndurch den „Großen Garten“- ich stieg gleich bei der ersten Station aus, um im zauberhaften Café mit Blick auf den Park den Abend ausklingen zu lassen. Ganz besonders gefiel es mir in der Kunsthofpassage in der Neustadt (Tipp 72) – jung, verrückt und super !!! Ein großes Lob auch den diversen Fotografen!

http://www.droste-verlag.de

Elisabeth-Joe Harriet spielt (ist) Kaiserin Elisabeth von Österreich

Die gereifte Kaiserin kehrt zurück in die Kaiservilla und erzählt in ihrem Refugium, den Stallungen, aus ihrem Leben.

Die Kaiserhymne ertönt und das Publikum steht respektvoll auf. Denn: Auf tritt Elisabeth persönlich, , ganz in Schwarz, wie sie sich nach dem Tod ihres Sohnes kleidete. Sie begrüßt die Gäste: „In den Stallungen habe ich immer meine Gäste empfangen.“ Und weiter: „Ja, ich bin wieder auferstanden, im Elysium war es zu langweilig. Außerdem hat man in den Sisifilmen so viel Blödsinn über mich verzapft, da habe ich mich entschlossen, in einem geliehenen Körper zurückzukehren und einiges richtig zu stellen.“ Und dann gleich der erste Schuss vor den Bug der Monarchie: „Die Monarchie ist wie ein alter Eichenbaum, der kracht schon ordentlich!“ Für ihren Franz hat sie volles Mitleid: „Der arme Pechvogel Franz!“ Ja, hätte er nur mehr auf sie und den Sohn gehört, vielleicht wäre ihm, der Monarchie und dem Volk viel Leid erspart geblieben.

Elf lebensgroße Fotos ihrer Familie und Freun hängen, noch verdeckt mit lila Vorhängen – lila und Veilchen, das gehörte zu Elisabeth! – hinter ihr an der Wand. Im Laufe der Vorstellung wird sie ein Bild nach dem anderen enthüllen und dazu ein paar ziemlich unbekannte Familiengeheimnisse enthüllen: Etwa über ihren „Papi“, den Max, Herzog in Bayern. Dass er ein Lebensgenießer war, da ist hinlänglich bekannt. Wie sehr aber, das eröffnet Sissi ungeniert, ohne zu verleugnen, wie sehr sie trotz allem ihren Papi geliebt hat. Über die Ehe ihrer Eltern ist auch nichst Gutes zu berichten. Die Mimi, wie die 8 Kinder ihre Mutter nannten, war ziemlich unglücklich, ertrug den lockeren Lebenswandel mit äußerer Fassung. Musste bereit sein, wenn der Ehegemahl geruhte, sie zu besuchen. Daraus entsprossen dann die Kinder.

Verlobung mit 15 Jahren! Sissi im O-Ton: „Wenn ich geahnt hätte, was auf mich zukommt, hätte ich nicht geheiratet! Ich bin ja richtig verschachert worden!“ Sie rebelliert gegen das Hofzeremoniell, reist durch die Welt, setzt sich für Ungarn ein…all das ist bekannt. Aber wie Elisabeth -Joe Harriet- alles erzählt,, das ist lebendig und spannend. Sie zitiert aus „ihren “ Tagebüchern, liest aus Gedichten vor, zeigt Elisabeth als eine verletzliche, politisch informierte, sich aber im Hintergrund haltende Kaiserin. Eine Frau, die sich verlieben könnte, aber nicht durfte, eine Frau, die in ihrer Gesellschafterin Ida von Ferenczy eine, vielleicht die einzige Freundin, hatte. Letztendlich eine einsame Frau.

Zum profanen Teil: In der Pause wurde Veilchensekt und ein Vanillegebäck serviert. Am Abend traf man sich im Restaurant K&K im Zentrum von Bad Ischl, um über die Vorstellung zu plaudern. Wie immer, wenn Elisabeth-Joe Harriet einen Figur aus der Vergangenheit lebendig werden lässt, trägt sie diese in die Gegenwart hinein. Dazu gehört auch gemeinssames Genießen!

Infos zu allen Darbietungen von Elisabeth-Joe Harriet:

http://www.elisabeth-joe-harriet.com und http://www.v-a-n.at

Christoph Willibald Gluck, Orphée et Eurydice. Ballett-Oper von John Neumeier.

John Neumeier: Regie, Choreografie, Bühne, Kostüme und Licht. Kazuki Yamada: Musikalische Leitung.

Hamburg Ballett John Neumeier.Bachchor Salzburg unter der Leitung von Benjamin Hartmann

Maxim Mironov: Orphée, Andriana Chuchman: Eurydice, Lucía Martín – Cartón: L´Amour

Es war ein atemberaubender Abend! John Neumeier, der Grandseigneur des Balletts, übertraf sich selbst und schuf ein in der Ballettgeschichte völlig neues Genre: Die Ballett-Oper. Waren seit der Barockzeit Balletteinlagen das Beiwerk zur Oper, so dreht Neumeier die Wertung um: Die Ballettszenen beherrschten die Szene, die Arien waren die gesanglichen Glanzpunkte.

Wenn John Neumeier einen Ballettabend choreographiert, dann wird es immer ein Meisterwerk, weil er alles, alles, wirklich alles selbst kreiert: Bühnenbild, Licht, Kostüme und Tanz. Man spürt und sieht bis ins kleinste Detail seine geniale Handschrift. Nur so kann das so genannte „Gesamtkunstwerk“ entstehen.

Um dem Mythos von „Orpheus und Eurydike“ zu aktualisieren, wird aus Orpheus ein Ballettmeister. Man probt Szenen zu einem Ballett nach dem Gemälde des Malers Arnold Böcklin „Toteninsel“. Eurydike soll die Hauptrolle übernehmen, kommt aber meist zu spät zu den Proben. Orpheus rügt sie heftig, sie verlässt beleidigt den Saal, steigt in ihr Auto und verunfallt tödlich. Soweit die Transformation in die Gegenwart. Was folgt, ist die bekannte Geschichte: Orpheus steigt in die Unterwelt, um Eurydike zurückzuholen, überzeugt die Götter der Unterwelt durch seinen Gesang. Doch sie wird nur wieder lebendig, wenn er sich während des Ganges zur Oberwelt nicht nach ihr umdreht. Das Ende ist bekannt. Eurydike stirbt ein zweites Mal.

Staunend erlebt man, wie Neumeier keine Scheu hat, Totenreich und Elysium in Bild und Tanz darzustellen. Die düstere „Toteninsel“ öffnet sich zu großen Spiegeln, Dämonen tanzen einen animalischen Tanz um Orpheus, er aber schreitet angstlos weiter ins Elysium, wo im Hintergrund Eurydike erscheint. Er will sie so schnell wie möglich in die Oberwelt zurückführen. Immer an die Mahnung denkend, dreht er sich nicht um, sondern treibt Eurydike zur Eile. Sie, ein wenig raunzend, dann fast keifend, schließlich eifersüchtig quengelnd zweifelt an seiner Liebe. Als Orpheus, sie tröstend, sich umdreht, entschwindet sie ihm.

Im letzten Akt ist es die zauberhafte Figur L`Amour, die ihn tröstet und erinnert, dass die Kraft der Liebe Eurydike in Vision und Gedanken zurückkehren lässt und ihn für immer beseelen wird.

Maxim Mironov ist die Idealbesetzung. Seine Stimme umfasst mühelos die Höhen des Tenors und die Tiefen eines Baritons. Seine Arien , besonders die berühmte: „J´ai perdu mon Eurydice“ erhielten langen Applaus. Bezaubernd auch Luzía Martín Carton als L´Amour, zuerst seine Assistentin, dann seine „Psycha-gogin“, seine Seelenbegleiterin durch die Unterwelt, und letzlich seine Retterin aus den Untiefen der Verzweiflung. Die schwierige Rolle der Eurydike meisterte Andriana Chuchman bravourös. Schwierig deshalb, weil sie keine „hehre“ Eurydike darstellen sollte, sondern eher eine an der Liebe Orpheus` immer zweifelnde, leicht zickige Ehefrau. Unbedingtes Lob und viel Applaus galten auch dem hervorragenden Bachchor, der – aus dem Orchestergrabend singend – die Szenen in der Unterwelt und Elysium begleitete. Nicht zu vergessen natürlich, die hervorragenden tänzerischen Leistungen des Hamburger Balletts, allen voran das Paar Edvin Revazov und Anna Laudere, die als Schatten von Orpheus und Eurydike wunderbare Pas de deux tanzten.

Frenetischer Applaus und lange standing ovations für John Neumeier. Das Publikum ehrte ihn für sein Gesamtkunstwerk. Denn ihm gelang, was dem Theater der Gegenwart oftmals abhanden kommt: Ein Theater fernab von Polittheater, „moralischer Erziehungsanstalt“ etc. Frei von „Erziehung“ darf sich das Geschehen entwickeln. Das Publikum taucht ein in die Phantasie Neumeiers, der es von der Oberwelt in die Unterwelt und das Elysium führt, ganz ohne Scheu, das Unsagbare und Unzeigbare sicht- und spürbar zu machen. Der Alltag hört auf zu existieren, die Kunst übernimmt die Rolle, die sie seit jeher hatte: In eine andere Welt zu entführen und die Magie wirken zu lassen.

http://www.salzburfestival.at

Theater in der Josefstadt: Henrik Ibsen: Ein Volksfeind

Bearbeitung von Arthur Miller. Regie: David Bösch, Bühnenbild und Video: Patrick Bannwart, Kostüme und Video: Falko Herold

Ein spannendes Stück, auch nach 140 Jahren mehr denn je aktuell. Vielschichtig, keineswegs geht es geradlinig Moral gegen Unmoral, Held gegen Unhold. Das wäre zu seicht. Ibsen wusste, wie man mit „Heldenthemen“ umgeht – man stellt den Held vor unlösbare Situationen. Ganz nach Freidrich Schiller! So muss sich der Kurarzt Dr. Stockmann entscheiden: Lässt er sich auf Kompromisse ein oder bleibt er dabei, das verheerende Wassergutachten zu veröffentlichen? Da muss ihm bewusst sein, dass die Menge, die Stadtbürger und allen voran der Bürgermeister ihm den Konkurs der Stadt vorwerfen können. Denn wer möchte ein Bad besuchen, dessen Wasser nachgewiesener Maßen vergiftet ist? Wenn das Bad nicht eröffnet wird, dann droht allen Familien der Stadt großes Elend, so der Bürgermeister. Großartig, wie der Regisseur den Schluss ansetzt: Gott sei Dank lässt er nicht, wie Arthur Miller es wollte, einen Minister als deus ex machina auftreten, der Dr. Stockmann völlig rehabilitiert und ihm seinen Heldenschein bescheinigt. Bösch lässt auf dem letzten Video die Eröffnung stattfinden – der Bürgermeister spricht lobende Worte für seinen Bruder, Dr. Stockmann. Aus – Ende! Das Publikum darf nun rätseln…und das ist gut so.

Wieder einmak zeigt sich das Ensemble in Höchstform. Auch in der gefühlten fünfzigsten Vorstellung wird auf Vollgas gespielt. Allen voran Roman Schmelzer als Kurarzt Dr. Stockmann. Ihm glaubt man die unna“chgiebige Haltung. Er ist einer, der sich nicht kaufen lässt. Er bleibt dabei, dass man mit der Lüge nicht weit kommen werde. Spätestens, wenn sich die Krankheitsfälle häufen werden, würde der Schwindel auffliegen. Diesem temperamentvollen Arzt und Familienvater tritt ein ebenso temperamentvoller Bruder, der zugleich Bürgermeister der Stadt ist (intensiv: Günter Franzmeier!, entgegen . Die beiden schenken sich nichts an Zorn, Empörung auf Seiten des Arztes, Hinterlist, politisches Taktieren unter Einsatz alller Mitteln, besonders der Medien, auf der Gegenseite. Die Medien bekommen von der Regie ihr Fett ganz gehörig ab: Da ist der laxe und feige Verleger Aslaksen /André Pohl. Er dreht sein Zeitungsblatt nach dem günstigsten Wind, ist für den Bürgermeister Steigbügelhalter. Interessant ist auch Kathrin (Martina Ebm als Ehefrau des Arztes) – auch sie ist keine „geradllinige Figur“: Obwohl sie voll und ganz zu ihrem Mann steht, verlässt sie ihn mit dem Sohn und dem Kind, das sie erwartet. Ihr ist es wichtiger, die Kinder in Sicherheit zu bringen als unter dem „Heldendruck“, dem sich ihr Mann auslieffert zu leben. Spätestens ab diesem Moment gerät die Überzeugung des Arztes ins Schwanken: Familie oder Heldentum?

Großartig von allen gespielt. Kluge Regie und kluge Videozuspielungen. Gut, dass das Stück auch in der kommenden Saison am Spielplan bleibt!

http://www.josefstadt.org

Martin Suter, Melody. Diogenes

“ Der kanns halt“, meint die Bibliothekarin, mit der ich gerne einen Plausch über Neuerscheinungen abhalte. Und macht dazu eine Handbewegung, die so zwischen Bewunderung und „wissen wir eh“ wedelt.

Ja, Martin Suter kanns wirklich, auch wenn er immer wieder aus demselben Personentopf schöpft: Da ist ein immens Reicher, alt, aber noch klar im Kopf. Da ist viel Geld, viel Korruption – ach, dazu sagt man eleganter „Einflussnahme“. Da ist ein armer, brotloser Jungjurist und da ist eine schöne, geheimnisvolle Frau. Und eine Superköchin darf nicht fehlen, die die feinsten italienischen Gerichte serviert. Man meint, das kennt man doch schon alles, dann aber doch nicht ganz, denn Suter lässt sich nicht so leicht in die Karten schauen.

Der Plot entwickelt sich wie die russische Puppe: Die Außenpuppe: Der reiche Nationalrat in Ruhestand. Dr. Stotz stellt den jungen Tom Elmer an, der seinen Nachlass ordnen soll. Zweite Puppe: Eine geheimnisvolle Schöne. Sie ist lange schon tot oder verschwunden, war die Braut von Dr. Stotz. Dritte Puppe: Elmer und die Nichte von Dr. Stotz schälen ein Geheimnis nach dem anderen heraus. – Rauskommt: Die vierte und fünfte und sechste Puppe – immer Dr. Stotz, der nicht der ist, als der er in der Gesellschaft gilt. Die Doppelgesichtigkeit, die Doppelperson – ein häufiges Thema in der Literatur, besonders in der Schweiz – Max Frisch, auch Dürrenmatt. Bei Suter ist es die Freude am Vexierspiel, die Freude, den Leser auf Spannung zu halten. Was ihm ja immer wieder gelingt. Und die Freude an der Kritik der superreichen und supersatten Gesellschaft, der Politiker und derer , die sichs richten. Auch in diesem Roman. Mehr sei hier nicht verraten.

http://www.diogenes.ch

Virginia Hartmann, Tochter des Marschlandes

Aus dem Amerikanischen von Frauke Brodd. Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe

Ihrem Vater verdankt Loni Mae die Liebe zur Natur. Sie erfährt alles über das Leben der Tiere im Marschland Floridas, insbesonders interessiert sie sich für Vögel, die sie perfekt zu zeichnen lernt. Als ihr Vater eines Tages vom Fischen nicht mehr heimkehrt, heißt es, es wäre ein Unfall gewesen. Nach dem Tod des Vaters beschließt Loni Mae nach Washington D.C. zu ziehen, wo sie eine interessante Stelle im Smithsonian Institut bekommt. Sie ist dort glücklich, zeichnet Vögel und hat Freundinnen. Doch eines Tages ruft sie ihr Bruder dringend nach Hause zurück, da die Mutter im Altersheim liegt und unter schwerer Demenz leidet. Er hat das Elternhaus verkauft, um damit das Heim für die Mutter zu finanzieren. Was für Loni Mae als Kurzaufenthalt beginnt, dehnt sich in die Länge. Immer mehr beunruhigt sie der Gedanke, dass der Tod des Vatters kein Unfall war, sondern Mord. Und sie macht sich auf die Suche nach Beweisen.

Klingt, wie ein guter Krimi. Aber eigentlich erwartete sich der Leser etwas anderes – anglelockt durch den Titel, der an den tollen Roman von Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse erinnert. Doch leider hält der Titel nicht, was er verspricht. Viele Seiten kämpft sich der Leser durch Banalitäten, wie Umzugskartons, Streitigkeiten mit Bruder und Schwägerin, Grillparty – und irgendwann legt er das Buch weg.

http://www.heyne.de

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen. Claassen bei Ullstein Buchverlage

Im bis zum letzten Platz ausverkauften Theater in der Josefstadt las Robert Seethaler aus seinem neuen Roman „Das Café ohne Namen“. Die Moderatorin Katja Gasser führte humorvoll durch den Abend. Gleich zu Beginn korrigierte Robert Seethaler sie, als sie von „Figuren“ des Romans sprach: „Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, über die ich schreibe. Figuren sind mir zu abstrakt.“ Wie wahr ist es, wenn Seethaler diesen Ausdruck für die Menschen, die im Café, rund um den Karmelitermarkt und Prater leben, ablehnt. Denn immer schon – in all seinen Romanen – zeichnet Seethaler Menschen aus Fleisch und Blut. Sie leiden, leben, überleben, lassen sich nicht unterkriegen. Da ist immer jemand, der zuhört, ein Ort, wo man reden, vielleicht auch nur vor sich hin brabbeln kann, ein Bier oder mehr trinken kann, Als Robert Simon – die Namensähnlichkeit mit dem Autor mag kein Zufall sein – 1966 das kleine Café am Karmelitermarkt eröffnet, ist es zu Beginn nicht mehr als eine Wärmestube. Doch bald entwickelt es sich zum Zentrum für alle, die am Markt arbeiten, die rundum wohnen, die Einsamen, die Redebedürftigen. Frauen, die Anschluss suchen, Frauen, die sich zum „Leutausrichten“ regelmäßig treffen. Tausend kleine Bilder entwirft der Autor zu einem Kaleidoskop der Zeit, die ein Aufbruch war und doch für viele kein Weiterkommen bot. „Ich werde beim Schreiben ständig von einer Bilderflut überschüttet“, sagt Seethaler. Ihm sei es wichtig, „die Menschen in seinem Roman mit einer Würde auszustatten“. Die umhüllt jeden einzelnen, auch den hoffnungslosen Preisboxer vom Heumarkt oder die leicht verrückte Frau, die eines Tages auftaucht, trinkt, Unsinn redet, dann plötzlich nicht mehr da ist. Schauplatz ist die Leopoldstadt – und Gott sei Dank lässt Robert Seethaler das Thema Juden und Nazi unberührt. Denn ihm geht es nicht um das sattsam schon abgehandelte Thema der Vergangenheitsaufarbeitung, sondern darum, zu zeigen, welche Kraft und Überlebenswille in den Menschen stecken, auch wenn sie fast schon am Boden liegen und meinen, das Leben endet gleich. Es ist ein Buch voller Zärtlichkeit, Menschlichkeit und Hoffnungswille.

http://www.josefstadt.org und http://www.ullstein.de

Elmar Goerdens Umarbeitung des Stückes von Maxim Gorkij „Sommergäste“

Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner

Wo Goerden draufsteht, da ist Klamauk – einige sagen: intellektueller Klamauk – drinnen. In seiner Bearbeitung der „Sommergäste“ hat er sich als „maître de plaisir“ ausgezeichnet. Das Premierenpublikum gröhlte vor Begeisterung – so liest man in einigen Kritiken. In der Aufführung am 25. April blieb die Hälfte des Parketts nach der Pause leer.

Aber jetzt ernstlich: Es ist ja wirklich lustig, wenn man fast das ganze Josefstadtensemble in Badehosen, Bikini oder Ganzkörperbadeanzug herumhopsen sieht, wenn sie in Mordlust oder Sexlust übereinander herfallen. Da wird gekreischt, gestritten, geflucht, gekichert, gefickt, geküsst – ganz pikant mti rotem Tischtennisball, den man sich gegenseitig in die Mundhöhle schiebt. Einige Tanzeinlagen sind gar nicht so schlecht, da schrammt Goerden knapp am Musical vorbei. Ja, und Sinn hat das natürlich auch. Denn schließlich hat Gorki sich dabei was gedacht: Es zeigt, wie selbstverliebt und verkommen die gehobene Mittelschicht war (gemeint 1904 und heute) und ist, sozusagen ein Totentanz auf Klamaukniveau. Das versteht ja jeder. A propos verstehen: In dem ganzen Gekreische und Durcheinander versteht man ja nicht allzu viel, aber wenn die Menschen auf der Bühne dann in den Hintergrund hineinreden oder sich gegenseitig irgendetwas zuflüstern, versteht man gar nichts. Muss man vielleicht auch nicht, oder?

Goerden kann aus dem Vollen schöpfen – das Ensemble macht alles mit, sogar bravourös. Michael Dangl genießt sichtlich seine Rolle als fieser Ehemann und noch fieserer Rechtsanwalt. Seine Frau Warwara (Alexandra Krismer) leidet geheimnisvoll und in Schönheit vor sich hin, woran erfährt man nicht. Köstlich ist Michaela Klamminger als düstere Gothic-Schreiberin. Ihre Parodie auf die Sentimentlyrik hätte sogar Ernst Jandl gefallen. Claudius Stolzmann als Wlas muss sich wie ein Kindergartenkind aufführen und sich dauernd verkleiden – warum, weiß man nicht so genau. Vielleicht, um mehr oder überhaupt Aufmerksamkeit zu bekommen. Silvia Meisterle gibt eine hysterische Funzen ab, ihr Mänadentanz ist eindrucksvoll. Susa Meyer als überforderte Mutter vierer „Gfraster“ streitet mit ihrem Ehemann auf Biegen und Brechen, um gleich danach einen lautstarken Orgasmus zu zelebrieren. Martina Stilp ist die lästige Besserwisserin, die allen Gästen mir ihren Mahnungen und Zurechtweisungen auf die Nerven geht, vor der eignen Tochter (pardon, seit kruzem Sohn) kapituliert. Das ist alles sehr zeitgeistig, manchmal witzig oder mäßig lustig.

Aber – was ist Gordon bei der Rolle Joseph Lorenz´eingefallen? Einen so hervorragenden Schauspieler zum stummen Geist zu degradieren? Er muss immer wieder pudelnass auf der Bühne „erscheinen“, nähert sich spuckend und erbrechend den Sommergästen und verschwindet. Soll das der Leibeigene, der Tod oder die personifiezierte Mahnung an die verlotterte Gesellschaft sein? Dass Lorenz auch diese Rolle mit Eleganz und Bravour meistert, ist eine Sache. Dass aber ein so exzellenter Darsteller solch eine Rolle spielen muss(?), ist Verschwendung von Talent. Das soll auch einmal deutlich gesagt sein!

Freundlicher Applaus mit dem üblichen Standardgekreisch.

http://www.josefstadt.org

Schuberttheater: Die Gesichter der Hedy Lamarr

Buch, Regie und Puppenbau: Kai Anne Schuhmacher

Spiel: Soffi Schweighofer und Markus-Peter Gössler

„Mein Gesicht ist mein Unglück. Mein Gesicht ist meine Maske, die ich nicht abnehmen kann“, sagt die alte Hedy Lamarr. Und doch nimmt ihr das Alter alles ab: Reichtum, Gesicht, Einsicht.

Die Regisseurin erzählt das Leben einer Frau mit vielen Facetten – Gesichtern. Da gibt es die schüchterne Hedy Kiesler, die vor ihrem reichen, aber tyrannischen Ehemann Fritz Mandl nach Amerika ausbüchst, dort das zweite Gesicht sich aufsetzt: das der berühmten Filmdiva, die noch weitere 5 Ehemänner verbraucht,, die eine eigene Filmfirma gründet und damit bankrott geht. Dann das Gesicht der genialen Erfinderin. Und schließlich das Gesicht der alternden, arbeitslosen Kleptomanin, die vor Gericht steht.

Berührend und ideenreich, besonders die Überlappung der (echten) Filmszenen mit der lebendigen Lamarr – in genialer Ähnlichkeit von Soffi Schweighofer gespielt – und immer wieder die alte, verzweifelte Hedy. Etwas überhaps wird leider das Leben durchlaufen, muss Markus Gössler sich in Windeseile in die diversen Ehemänner verwandeln. Da hätte man nachschärfen müssen, oder einiges weglassen.

http://www.schubertheater.at

Das Muth: „Hemingways Liebeshöllen“

Sona Mac Donald und Johannes Krisch: Rezitation, Philipp Jagschitz: Klavier

Eigentlich ist der Titel der Veranstaltung irreführend. Denn Angelika Hager, die für Text und Dramaturgie verantwortlich zeichnet, konzentrierte sich mehr auf die Frauen Hemingways und deren „Höllenqualen“. Johannes Krisch als Hemingway ist mehr oder weniger Stichwortgeber, hin und wieder seufzt er, resigniert und raisonniert darüber, wie ihn doch die Frauen und die Liebe quälen – all das sehr gekonnt! Aber leiden – leiden, das müssen die Frauen, und das führt Sona Mac Donald recht deutlich mit Text und Lied – begleitet von Philipp Jagschitz – dem Publikum vor Augen.

Es beginnt mit der Liebe zwischen Martha Gellhorn und Hemingway. Die beiden vorigen Ehefrauen Hadley Richardson und Pauline Pfeiffer sind Geschichte. Martha Gellhorn tritt auf und bald schon wieder ab. Sie muss die (platonische ?) Liebesgeschichte zwischen Ernest und Adriana Ivancich verkraften, die Reise- und Jagdlust ihres Ehemannes, der sie oft alleine zu Hause sitzen lässt. Scheidung, neue Ehe mit Mary Welsh. Am Ende dann die große – wirklich platonische Liebe? – mit Marlene Dietrich. Und Hemingways Selbstmord. Das alles erzählt, erlebt, ersingt Sona Mac Donald mit Bravour. Der Abend endet berührend mit dem Lied Marlenes: „Sag mir, wo die Blumen sind“ – eine deutliche Anklage der Männer, die Kampf, Krieg und Vernichtung über die Wellt bringen.

Viel Beifall!

https://muth.at

off Theater: „Heute Abend: LOLA BLAU“

Es trinkt, spielt und singt: Tamara Stern. Regie: Ernst Kurt Weigel, Klavier: Marcelo Cardosa Gama, Kontrabass: Mathias Krispin Bucher.

Georg Kreisler schrieb dieses „Einfraumusical“ über die imaginierte Sängerin Lola Blau 1971, als er, aus den USA zurückgekehrt, ziemlich negative Erfahrungen in Österreich machen musste. Lolas Schicksal ähnelt seinem und dem vieler Juden, die 1938 aus Österreich emigrierten.

Tamara Stern als Lola ist hinreißend und intensiv. 1938 ist Lola gerade dabei, sich in Wien eine Karriere aufzubauen, als ihr Freund sie telefonisch auffordert, dringend das Land zu verlassen. Ein Treffpunkt in der Schweiz wird ausgemacht, doch er kommt nicht. Lola reist allein mit dem Schiff in die USA. Auf dem Schiff verdient sie ein wenig Geld mit Tingeltangelauftritten. In den Staaten gelingt ihr tatsächlich eine spektakuläre Karriere, allerdings führen die Stufen oft über Betten, wo ungeliebte Liebhaber den Dank einfordern. Doch – Optimistin – wie sie ist, kann sie alle Verwundungen und Enttäuschungen „wegsingen“. Ihre Lieder sind erotisch – das gefällt den Männern -, witzig, ironisch – das gefällt allen. Manchmal, wenn die Sehnsucht nach ihrem Freund und der Heimat zu groß ist, dann singt sie ganz für sich ein jüdisches Lied. Als sie nach dem Krieg nach Wien zurückkehrt, muss sie feststellen: Es hat sich nichts geändert. Vernadern, verachten, hassen, zuschlagen – alles wie gehabt.

Tamara Stern ist eine Lola Blau, die man sofort ins Herz schließt: zuerst mädchenhaft kindisch, kokett mit Publikum, dem roten Kleidchen und den beiden Musikern spielend (Pianist Marcelo Cardoso Gama und Cellist Matthias Krispin Bucher spielen nicht nur tolle Musik, sondern tragen auch ihr Schärflein zur Komik bei!!), dann wieder schlägt die Stimmung um: Sie wird nachdenklich, traurig, selten wirklich niedergeschlagen. Dazu ist Lolas Überlebenswille zu groß. Wenn sie lacht, dann aus ganzem Herzen. Sie scheut auch nicht Klamauk, wenn sie etwa ganz „patschert“ auf dem Klavierdeckel herumkriecht in der kindlichen Hoffnung, erotisch zu wirken. .

Tamara Stern lässt das Publikum glauben, es sei ihr eigener Lebensweg, den sie darstellt. Intensiv kann sie über die Männerwelt lästern, auch die Theaterdirektoren bekommen ihr Fett ab. Wenn sie am Ende erfährt, dass ihr Freund auf offener Straße in Wien nach Kriegsende niedergeschlagen und als Jude beschimpft wurde, stimmt sie ihr „Herzenslied“ auf Jüdisch an, und das mit einer Intensität, die aufwühlt. Man trauert mit ihr.

Weitere Vorstellungen am 20. Mai und 9. Juni 2023. Eine Abend, den man nicht versäumen sollte!

Infos und Karten unter:http://www.off-theater.at , karten@off-theater.at oder 0676/ 360 62 06

Fritz Raddatz: Nizza -mon amour. Arche Verlag

Eine Liebeserklärng an die spröde Schöne des Mittelmeers

…untertitelt der Autor sein Büchlein. Fritz Raddatz (1931-2015) war stellvertretender Leiter des Rohwolt Verlages und Feuilletonchef der ZEIT, schrieb Essays und Romane. Sein Stil und Sicht auf die Stadt Nizza erinneren an Joseph Roth: Feine Beobachtungen, Lob gepaart mit harscher Kritik. Etwa über diverse Architektursünden – wie das Hotel Negresco oder das Museum für moderne Kunst. Seine kritischen Bemerkungen sind ebenso treffend wie die Lobeshymnen. Mit diesem Buch in der Tasche spaziert man mit „kritischem Verstand und Auge“ des Autors bestens ausgerüstet durch die Stadt. Durch seine sehr persönlichen Bemerkungen unterscheidet sich dieses Buch über Nizza wohltuend von den Reiseführern.

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David Hewson, Garten der Engel. Folio Verlag

Aus dem Englischen von Birgit Salzmann

David Hewson ist Italien-, besonders aber Venedigkenner, wo er seit dreißig Jahren lebt. Das Thema „Juden in Venedig unter Mussolinis Herrschaft“ lag lange brach, bis es dieses Jahr gleich durch zwei Autoren aufgegriffen wurde: Edith Schreiber-Wicke schreibt über eine jüdische Sängerin, die vor den Nazis nach Venedig flüchtet, dort aber verschleppt wird – siehe die Besprechung unter „Büchertipps“ – Ihr Schicksal bleibt ungewiss. David Hewsons Buch greift viel tiefer in die Untiefen des Jahres 1943, als die Deutschen in Venedig wie Berserker gegen Juden – egal ob alt oder Baby – vorgingen.

Anlass für David Hewson, dieses Buch zu schreiben, war die Geschichte des Professor Giuseppe Jona. Er war Vorsteher der jüdischen Gemeinde Venedigs und weigerte sich, den Nazis eine Liste aller in Venedig lebenden Juden zu übergeben. Giuseppe Jona beging am 17. September 1943 Selbstmord. Er wurde das Vorbild für den Arzt Diamante in der Geschichte. Die übrigen Figuren sind fiktiv, aber dem tatsächlichen Geschehen des Jahres 1943 angepasst, wie der Autor im Nachwort schreibt.

Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen: 1943 und in der Gegenwart, wodurch sich auch zwei ineineander verwobene Erzählstränge ergeben. Im Wesentlichen geht es aber um die Monate September 1943 und später. Der knapp 16-jährige Paolo lebt in Venedig in einem verfallenen Haus mit einigen Webstühlen, hat wenig Kontakt mit der Umwelt, bis eines Tages ein Geschwisterpaar mit vorgehaltenem Messer Einlass begehrt. Es sind von den Nazis gesuchte Partisanen. Der bis dahin von Politik und Weltgeschehen unbeleckte Junge wird nun mit der grausamen Realität konfrontiert: Wie Nazis auf alle Juden und alle, die sich aufmucken, Jagd machen. Menschen werden gefoltert und öffentlich hingerichtet. Der jüdische Arzt Diamante erstellt zwar die Liste der Juden, verbrennt sie jedoch und begeht Selbstmord. In einem infernalischen Akt fangen die Nazischergen alle Personen, die irgendwie nur verdächtig sind, unter anderem den Priester, und erschießen sie.

Es ist ein notwendiges Buch, das schon lange darauf gewartet hatte, geschrieben zu werden. Was Hewson von anderen „Krimiautoren“, unter die er gerne gereiht wird, unterscheidet, ist die differenzierte Sicht auf die Personen: Mitläufer aus Angst, Widerständler aus Wut, solche, die sich freiwillig zu Schergen machen, solche, die mitmachen und dabei versuchen, ihr Fell zu retten, wenn das Naziregime vorbei sein wird. Solche, wie Paolo, der völlig unschuldig in diese infernalische Hetze hineingerät. Solche, wie die Partisanin, deren ungebremste und unreflektierte Wut ihr selbst und Unschuldigen zum Verhängnis wird.

Ein wichtiger Roman, spannend und mit Detailkenntnissen versehen, der unbedingt gelesen werden muss!

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Sophie Heinrich und Paul Rivinius: In Almas Musiksalon, verlegt ins „Muth“

Foto „das Muth“: Helmut Karl Lackner

Die Idee, einen Salon, besser DEN Salon à la Berta Zuckerkandl ins Heute zu transportieren, hatte Sophie Heinrich, Konzertmeisterin bei den Wiener Symphonikern, schon vor einiger Zeit gehabt. Nach ausgiebigem Studium der Literatur über „das Teufelsweib Alma Mahler“ hatte sie Musik von Alma, ihrem Lehrer Alexander Zemlinsky, ihrem Ehemann Gustav Mahler für den Salonabend im Muth zusammengestellt.

Sophie Heinrich spielte auf einer Stradivari. Ihr Begleiter auf einem Bösendorfer Flügel war Paul Rivinius. Neben dem Klavier deuteten ein Lehnsessel und eine alte Stehlampe die Atmosphäre eines Salons um 1900 an. Dort saß Sophie Heinrich und las Zitate aus Almas Tagebuch und Beobachtungen von Zeitgenossen vor. Nach dieser kurzen Introduktion griff sie zum Instrument und verwandelte sich in eine wahre Teufelsgeigerin. Paul Rivinius war ein behutsamer Lenker durch die manchmal recht furiose Salonmusik.

Den Auftakt machte die Serenade in A-Dur von Alexander Zemlinsky, der Alma in Kompositionslehre unterrichtete. Zwischen den beiden soll es ja ein inniges Techtelmechtel gegeben haben. Die Musik ist teils zärtlich-einschläfernd, teils hart und energisch, wie er sich in Gegenwart der Schönen gefühlt haben mag. Dann kam Alma selbst zu Wort – eher zur „Note“. Bevor sie Gustav Mahler heiratete, komponierte sie selbst eifrig. Die beiden Liebeslieder „Bei dir ist es traut“ und „Waldseligkeit“ klingen innig, zärtlich. War die Adresse, an die sie gerichtet waren, noch Zemlinsky oder schon Mahler? Eher Zemlinsky, denn Mahler hatte ihr ja strikt verboten zu komponieren: „Du sollst so werden, wie ich dich brauche!“ schreibt er seiner Braut. Sie soll – so erzählt Sophie Heinrich – eine Nacht lang in ihrem Zimmer ratlos auf und abgewandert sein, unschlüssig, ob sie so einen Tyrannen heiraten will. – Sie wollte! Denn Ruhm und Genialität eines Mannes zogen sie ihr ganzes Leben hindurch an. Und sie scheint sich an dieses Verbot gehalten zu haben. Es wurden außer diesen beiden Liedern aus der Brautzeit keine späteren Kompositionen gefunden. Jedenfall dankt ihr Mahler mit einem innigen Liebeslied und mit dem zu Herzen gehenden Adagietto aus der 5. Symphonie – einfühlsam und virtuos von Sophie Heinrich gespielt, Die Bearbeitung für Violine und Klavier stammt von Robert Wittinger.

Danach vergönnten die beiden Interpreten dem Publikum eine Pause und mit der Sonate von Richard Strauss Erholung von so viel Liebesgeflüster. Diese erfrischende Salonmusik schrieb Strauss mit 23 Jahren und da wußte er bereits, wo es lang gehen soll. Alle Charakteristika seiner Musik waren schon aufbereitet – spannend zu hören!!

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Wiener Konzerthaus – Zwei Abende, die Musik und Dichtung verbinden.

31. Mai 2023, 12.30h: Markus Meyer liest E.T.A. Hoffmann: Seltsame Leiden eines Theaterdirektors. Am Klavier: Adele Liculescu spielt Diverses von Robert Schumann

14. Juni 2023, 19.30h:“Liebe und Verlust“, Udo Samel liest Gedichte und Texte von Goethe. Am Klavier Julius Drake mit Liedern von Schubert bis Beethoven. Tenor: Christoph Prégardien.

Margret Greiner: MÄDA & MÄDA. Gustav Klimt, die Wiener Werkstätte und die Familie Primavesi

Verlag Kremayr & Scheriau

Sie hat es wieder getan! Margret Greiner hat sich in ihrem neuen Buch wieder auf die Zeit rund um den Maler Gustav Klimt konzentriert. Vorausgegangen sind schon mehrere Bücher über die „Frauen um Gustav Klimt“ :Emilie Flöge, Stonborough-Wittgenstein, Beer-Monti). Nun also galten ihre Recherchen der Familie Primavesi, vor allem Eugenia Primavesi, genannt Mädä, und ihrer Familie, darunter die Tochter Eugenia Gertrude Franziska, ebenfalls Mädä genannt.

Es beginnt recht unterhaltsam: Die gerade einmal 15jährige Eugenia Butschek will Schauspielerin werden. Entsetzen bei der Mutter, Skepsis beim Vater. Wenn sich das Mädchen was vornimmt, dann führt sie es durch. Diese Eigenschaft wird ihr bis ins hohe Alter auch als Eugenia Primavesi erhalten bleiben. Das junge Ding macht Blitzkarriere in Olmütz, wird von dem reichen Unternehmersohn Otto Primavesi verehrt und ziemlich rasch geheiratet. Die Familie Primavesi besitzt eine Zuckerfabrik und ist reich, sehr reich. Eugenia kann nach Lust und Laune Häuser, Villen „bestellen“ und einrichten. Dabei wird sie nicht nur von ihrem Ehemann mit Geld und Verständnis tatkräftig unterstützt, sondern auch von dem Allroundkünstler Anton Hanak und dem Architekt Joseph Hoffmann. Sie setzt sich für deren „Kind“, die Wiener Werkstätte“. ein Gemeinsam mit ihrem Ehemann unterstützt sie diese Kunstrichtung, auch finanziell. Ihr Häuser in Wien und Winkelsdorf werden natürlich nach den strengen Regeln der Wiener Werkstätte eingerichtet und bald zum Zentrum und Zufluchtsort für Gustav Klimt, der auch die beiden Mädä malt (Umschlagbild), den Architekten Joseph Hoffmann und viele andere. Man feiert herrliche Feste bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hinein. Eugenias Engagement für die Wiener Werkstätte gibt Margrit Greiner Gelegenheit, sehr detailreich diese Kunstrichtung zu schildern. Manchmal etwas zu ausführlich.

Aus verschiedenen Gründen – vor allem aber, weil Eugenia Primavesi als künstlerische Leiterin der Werkstätte sich weigert, eine billige und besser verkäufliche Produktion zu akzeptieren, muss ihr Ehemann , der für die Finanzen zuständig ist, den Konkurs anmelden. Die Ehe wird geschieden, die vier Kinder leben mit der Mutter, werden sich noch in der Nazizeit in alle Welt verstreuen. Tochter Mädä geht nach Kanada, wo sie ein Heim für sozial benachteiligte Kinder gründet und sehr erfolgreich führt. Beide Mädas sterben hochbetagt.

Margret Greiner ist eine versierte Romanbiografie Verfasserin und betreibt vorab intensive Recherchearbeiten, die sie geschickt und oft sehr amüsant in den Text einbaut. Genaue Beobachtung, Menschenkenntnis, gepaart mir Humor und sanfter Ironie sind ihre Stärken. Das Buch ist „lehreich“, ohne belehrend zu wirken.

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Grafenegg – Schlossklänge: Mendelssohn-Bartholdy, Paulus Oratorium

Tonkünstler Orchester Niederösterreich, Dirigent: Fabien Gabel, Arnold Schönberg Chor: Leitung Erwin Ortner

Nikola Hillebrand: Sopran, Johanna Krokovay: Alt, André Schuen: Bariton, Werner Güra: Tenor

Mit dem Oratorium „Paulus“ (Uraufführung 1836 in Düsseldorf) wurde Mendelssohn-Bartholdy schlagartig in ganz Europa bekannt. Er wurde als Originalgenie gefeiert, einer der die Romantik mit der Klassik versöhnte und neu aufstellte. Oratorien wurden vor ihm zahlreich komponiert, alle mit dem Ziel, die Reformation zu stoppen. Nun also kommt ein Komponist mit jüdischem Hintergrund und protestantischem Glauben und versöhnt die Gegensätze!

Der Schönbergchor beginnt mit Macht einen Triumphgesang zu Ehren Gottes, dann setzen die Solistimmen ein:

Mit klarem Sopran, herrlich in der Höhe, sicher in der Mittellage singt Nikola Hillebrand von Stephanus. Dann setzt der Tenor (Werner Güra) etwas verhalten fort mit der Geschichte der Juden, die Moses‘ Gesetze missachteten. Erster Höhepunkt ist die hochdramatische Forderung, formuliert vom Chor: Steinigt ihn (Stepahnaus). Kühl, fast wie ein Chronist, bestätigt der Tenor (Werner Güra)) die Tat. Spätestens mit diesen Szenen versetzt der Komponist die Zuhörer in Hochspannung, untermalt von dem Orchester, das Fabien Gabel stilsicher dirigiert. Opernhaft geht es weiter: Saulus erfährt an sich die Erleuchtung und wird zu Paulus. Großartig setzt da André Schuen mit seinem volltönendem Bariton, der bis in die Tiefen des Basses reicht, ein – er ist ein demütig-kraftvoller Paulus, ein Erneuerer, der die Worte des Herrn über die Grenzen verbreiten wird. Seine Arie „Ihr Männer, was macht ihr da?“ ist Mahnung, Aufforderung, die Gräben zwischen allen Menschen zuzuschütten! Kaum eine passendere Botschaft an all die kriegswahnsinnigen Machtgierigen hätte zu Zeiten wie diesen musikalisch erklingen können!

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Theater in der Josefstadt: Leopoldstadt

Text: Tom Stoppard, Deutsch von Daniel Kehlmann, Regie: Janusz Kica, Bühnenbild und Kostüme: Karin Fritz

Tom Stoppard schrieb eine Art „Theaterdoku“ über das Schicksal zweier jüdischer Familien, vier Generationen umspannend, beginnend in den Jahren 1870, endend in den späten 1950er Jahren. Zu Beginn wird groß gefeiert, fast alle Mitglieder sehen optimistisch in die Zukunft. Besonders Hermann Merz, Chef der gutgehenden Textilfabrik Merz, hat allen Grund zur Freude und Optimismus: Die Geschäfte gehen gut, ob Jude oder Nichtjude spielt gesellschaftlich und wirtschaftlich keine Rolle. Wien ist eine aufstrebende Metropole der Kunst und Wissenschaft, Freud, Klimt, Mahler sind Namen, die man wie selbstverständlich bemüht. Ein Klimtporträt hängt im Salon. Aber Hermann Merz und die Seinen sehen die drohenden Zeichen am Horizont nicht aufkommen. Herbert Föttinger spielt diesen selbsticheren Pater familias und erfolgreichen Chef der Firma mit Autorität und Charme. Nur einer in der Gesellschaft ahnt oder weiß, dass Juden in der Welt kein sicherer Platz gegönnt ist: Ludwig Jakobowitz (Ulrich Reinthaller) ist der Realist in der Gruppe, dem aber niemand wirklich zuhört.

Der Vorhang fällt, und wenn er aufgeht, sind Jahre vergangen. Die Familie ist deutlich dezimiert und lebt zusammengepfercht in einem Raum. Als ein „Zivilist“ (Joseph Lorenz) eintritt, ist das Schicksal der Familie besiegelt: Hart, ohne Mitgefühl, gefährlich leise registriert der Beamte der neuen Partei die Namen der Anwesenden, gibt ihnen eine Viertelstunde Zeit, um einen kleinen Koffer zu packen. Danach werden sie in verschiedene Lager abtransportiert – eine der eindrucksvollsten Szenen dieses Abends

Wieder viele Jahre später: Österreich in den 1950er Jahren. In der kahlen ehemaligen Wohnung der Familie treffen sich die letzten drei Überlebenden aus der Familie. Alle anderen sind in Konzentrationslagern umgekommen oder haben Selbstmord begangen.

Der Vorhang fällt, und das Publikum zögert eine gespürte WEile mit dem Applaus. Jeder fragt sich wohl: kann man, darf man nach diesem bedrückennden Ende applaudieren. Natürlich gibt es Applaus! – Für die beeindruckende Leistung des ganzen Ensembles.

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