Carsten Henn, Der Buchspazierer. Pendo Verlag/Piper Verlag

Carsten Henn widmet diesen Roman allen „Buchhändlern und Buchhändlerinnen. Selbst in der Krise versorgen sie uns mit einem ganz besonderen Lebensmittel“.

„Ein Roman ist wie der Bogen einer Geige und ein Resonanzkörper wie die Seele eines Lesers“ – diesem Motto von Stendhal, dem Roman vorangestellt, kann der Leser vertrauen – es löst sich wie ein gegebenes Versprechen Seite für Seite ein.

Bücher über Bücher zu schreiben ist ein Trend. Elke Heidenreich, George Saunders oder Ruth Ozeki – um nur einige zu nennen, haben sich diesem Thema in verschiedenster Weise genähert. Für Carsten Henn ist ein Buch tatsächlich Leben und Lebensmittel. Es gibt dem Leser Ruhe, vor allem dem einsamen Leser. Einsamkeit ist Henns Hauptthema. Schon im „Die Geschichten des Bäckers“ geht es darum, Menschen zu zeigen, die ohne Liebe vereinsamen. Der Bäcker weiß darum und hilft mit seinen Geschichten.

Auch Carl, der Buchspazierer, weiß um die Einsamkeit der Menschen. Jeden Abend packt er Bücher liebevoll ein und marschiert mit ihnen zu seinen Kunden, reicht ihnen ein stückweit Trost, Hilfe. Carl könnte längst schon in Pension gehen. Aber er hängt an seinem Beruf als Buchhändler. Seit die Tochter des Ladenbesitzers das Geschäft übernommen hat, droht ihm die Entlassung. Aber unbeirrt davon marschiert er mit seinen Büchern von Kunde zu Kunde. Bis eines Tages sich ein zehnjähriges Mädchen ihn ungebeten begleitet. Sascha ist ein wenig altklug, gewitzt und versteht sehr schnell, dass auch Carl unter Einsamkeit leidet. Sie lehrt ihn, das Leben anzupacken.

Vielleicht tut so mancher Leser das Buch als „Jugendlektüre“ ab. Als gute zwar, aber lässt sich deshalb nicht so richtig auf den Inhalt ein. Mancher mag vielleicht „Kitschalarm“ orten. Aber solche Leser wollen die Botschaft der tiefen Menschlichkeit nicht wahrhaben. „Weißt du, die Menschen vergessen immer mehr zu lesen. Dabei sind Menschen zwischen den Deckeln, ihre Geschichten. In jedem Buch ist ein Herz, das zu pochen beginnt, wenn man es liest, weil das eigene Herz sich mit ihm verbindet“, erklärt Carl dem Mädchen (S46). Ja, es menschelt in den Büchern von Carsten Henn. Manchmal vielleicht sehr sogar. Und unsere Zeit ist dafür nicht immer gemacht, solche Bücher zu lesen, ihre Botschaft zu akzeptieren. Aber gerade deshalb sind Henns Bücher wichtig.

http://www.pendo.de und http://www.piper.de

Ileana Cotrubas und Manfred Ramin: Die manipulierte Oper. Verlag Der Apfel

Ein Buch, das jeder Kulturinteressierte gelesen haben muss. Welch Erleichterung, dass endlich Autoren, die es wissen, weil sie die Misere am eigenen Leib erfahren mussten, offen über die Krankheit „Regietheater“ schreiben und hinter die Kulissen blicken. Was übrigens für die Oper gilt, gilt für jedes Theater. Wie ich schon andernorts schrieb, gibt es gutes Theater und Regietheater. Letzteres ist zunehmend unerträglich geworden

Ileana Cotrubas war seit den 1970er Jahren auf allen Opernbühnen der Welt zu Hause, sang Susanna, Manon, Violetta und viele andere Partien. Manfred Ramin war Dirigent und managte die Karriere seiner Frau. Beide sind also mit dem Opernbetrieb bestens vertraut. Und sie haben den Mut, über den Missbrauch zu schreiben. Regisseure – und sie nennen bekannte Namen wie Neuenfels, Kusej oder Calixto Bieito – missbrauchen das Werk, um durch skandalöse Inszenierungen zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen zu werden. Je skandalöser eine Inszenierung ist, desto mehr steigt der Ruhm des Regisseurs. Die Liste der „Parasitenregisseure“, wie die Autoren sie nennen, kann beliebig verlängert werden. Parasitenregisseure deswegen, weil “ es sich dabei um Gebilde handelt, die aus eigener Kraft nicht existieren können. Sie sind auf einen Träger angewiesen, den sie dann oft überwuchern.“ (S 42)

Die Autoren bleiben nicht an der Oberfläche, sie gehen in die Tiefe des Übels. Das beginnt beim Direktor – welche Regisseure bestellt er? Wann weiß der Sänger, die Sängerin (der Schauspieler, die Schauspielerin), welcher Regisseur inszenieren wird? – Meist viel zu spät, um aus der Produktion noch aussteigen zu können. Warum bestellen Politiker – und hier seien einmal mehr für Österreich Andrea Mayer und Veronika Kaup-Hasler genannt – immer wieder unfähige Direktoren? Interessiert sich die Politik überhaupt für Kultur? Eher sehen die Zuständigen sie als notwendiges Lockmittel für Touristen.

Hoffnung blinkt da und dort auf – erstens durch dieses ungemein wichtige Buch, das man jedem Kulturverantwortlichen auf den Schreibtisch legen und ihn zur Lektüre verpflichten müsste. Dann durch Künstler, wie Nikolaus Habjan oder den Dirigenten Philipp Jordan, die sich offen gegen das Regietheater stellen. Und durch den Kurierjournalisten Thomas Trenkler, der immer wieder in seinen Artikeln auf die fragwürdigen Bestellungen von leitenden Posten in der Kultur hinweist.

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Burgtheater: Marieluise Fleißer: Ingolstadt

Es gibt gutes Theater und es gibt Regietheater! Diese Inszenierung von Ivo van Hove fällt unter die letztere Kategorie. Gleich zweimal wurde Maria Luise Fleißer von Männern, die sich als Regisseure und Besserwisser sahen, vergewaltigt. Das erste Mal durch Bert Brecht, der ihr Stück „Pioniere in Ingolstadt“ derartig krass änderte, dass die Autorin auf allen deutschen Theatern und in ihrer Heimatstadt Ingolstadt als persona non grata gemieden wurde. Das zweite Mal nun durch Ico van Hove, der aus den Stücken „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ ein unerträgliches zweieinhalbstündiges Machwerk machte und pausenlose Gewalt und Geschrei auf das Publikum niederließ. Da mussten junge, unbekannte Schauspieler und Schauspielerinnen Waterbording bis kurz vorm Ertrinken ertragen, Vergewaltigungen mit heruntergelassenen Hosen waren Normalität. Kämpfe mit ungeheurer Brutalität – man hoffte, dass sich keiner ernsthaft verletzte. Das alles pausenlos und schier endlos. Schade um die Zeit, schade um Marialuise Fleißer, schade um die jungen Darsteller!

http://www.burtheater.at

P.S.: Gegen den Publikumsschwund in Theater und Oper gäbe es ein probates Mittel: Weg mir den allzu radikalen Regisseuren, die sich wie Götter fühlen. Eine Buchempfehlung zum Thema Regietheater:

Cotrubas/Ramin: Die manipulierte Oper, Verlag Der Apfel. Offene Kritk, mutig, längst notwendig!

Staatsoper: Ballett: Dornröschen von P. I. Tschaikowski

Musik: P.I. Tschaikowski und Giacinto Scelsi. Choreographie: Martin Schläpfer und Marius Petipa. Bühne: Florian Etti. Kostüme: Catherine Voeffray. Dirigent: Patrick Lange

Ein Abend, der Ballettfans Freude macht. Vor allem denjenigen, die gerne auf Spurensuche gehen: Wo ist Petipa zu sehen, wo die Hand Schläpfers zu merken? Letzterer hat wie Künstler, die fremde Bilder übermalen, seine Choreographie über die Petipas gelegt oder – wie im dritten Akt – ein ganz neues Bild gemalt, um in der Sprache der bildenden Kunst zu bleiben.

Man darf ausgiebig in den Farben der Romantik schwelgen. Zwischen kräftigen roten Rosendekor und bunten Kostümen entwickelt sich das Märchen. Der Beginn (Prolog) ist zwar naiv, bis überflüssig: Im weißen Himmelbett beten die Königin und der König um Kindersegen, legen sich hin und-…Ja, es hat gefunkt! Neun Monate später hängt eine winzige Wiege im Rosenhimmel. Und es darf gefeiert werden. Olga Esina als Königin – von Martin Schläpfer zu Recht in ihrer Rolle aufgewertet – beherrscht wie immer die Szene, sobald sie tanzt. Darüber brauche ich nicht mehr zu schwärmen! Ihre Eleganz und Bühnenpräsenz stellt sie wie immer unter Beweis. Dem König (Masayu Kimotu) kommt eine marginale Rolle zu – hat Schläpfer feministische Attitüden? Es entwickeln sich die von Petipa entworfenen Tanzszenen, alle – Schläpfer will ja immer das ganze Ensemble glänzen lassen – dürfen mit großem Eifer glänzen. Auch die Jüngsten als Elfenkinder, die wie Spielpuppen hereingetragen werden. Knapp bevor es langweilig werden könnte – der erste Höhepunkt: Der fulminante Auftritt der bösen Fee Carabosse! Claudia Schoch ist dank der über Petipas Choreografie darübermalenden Pinselstriche Schläpfers eine temperamentvolle, bedrohliche Fee. In Begleitung ihrer beiden Adlati Calogero Failla und Igor Milos zerstört sie die Idylle und verhöhnt mit ihrer Macht die allzu satte Feiergesellschaft( Titelfoto). Ioanna Avram als zauberhafte Fee Lilas kann das Todesurteil in hundertjährigen Schlaf verwandeln. Hier setzt Schläpfer auch starke Akzente mit Symbolkraft, indem er die böse und die gute Fee zuletzt zu einer Einheit im Tanz verschmelzen lässt. Der dritte Akt mit der Musik (aus der Konserve) von Scelsi bezaubert das Publikum mit einer Waldkulisse und verträumt-idyllischen Tänzen des Blauen Vogels (Giorgio Fourès) und des Fauns (Daniel Vizcayo). Mit dieser Choreographie hat Martin Schläpfer Spannung, Atmosphäre und den ganzen Zauber eines Märchens in den Ablauf hineingebracht. Nach dem dritten Akt dürfen noch Hyo-Jung Kang als wachgeküsstes Dornröschen und Brendan Saye als Prinz ihr Können zeigen. Letzterer trumpft mit einer Sprungqualität auf, die an Nurejew erinnert. Leider wirkt der vierte Akt,ganz der Petipachoreographie einverschrieben, altmodisch, trotz der modernen Kostüme – oder gerade auch deswegen. Besonders unkleidsam ist das der Königin. Dass König und Königin nach der Hofübergabe sterben und auf dem Bühnenvordergrund liegen wie les giants in französichen Kathedralen, ist eine überflüssige und peinliche Idee.

Patrick Lange führt sehr behutsam, ganz auf Märchenpfoten, das Publikum durch die Märchenmusik!

Langer und begeisterter Beifall belohnte Ensemble, Musiker und Dirigenten.

Albertina: Ruth Baumgarte, Malerin der Farben und des Lichts in Afika

Foto oben „Burning Sky“

Bilder, die einen sofort in ihren Bann ziehen. Da glühen Rot, Gelb, abgeschattetes Lila – die ganze Palette der puren Farben- und Lebensfreude auf. Fasziniert gehe ich von einem Bild zum anderen, eigene Erinnerungen an Äthiopien und andere von mir bereiste Länder steigen auf. Landschaften, die ich durchwandert, Menschen, denen ich begegnet bin. Die Bilder Ruth Baumgartes erhöhen die eigenen inneren Bilder in eine Absolutheit, Stimmigkeit. Sie malt keine „Kolonialbilder“, keine Tourismuserinnerungen, keine „typisch afrikanischen Bilder“, borgt sich nicht die Kunst der afrikanischen Bewohner, schielt nicht nach Angleichung, Verbrüderung.

Ruth Baumgarte, 1923 in Coburg geboren, bereiste Afrika von Norden bis in den Süden, war von den Menschen, der Landschaft fasziniert. Ihre Bildersprache erzählt von den ungeheuren Anstrengungen der Menschen, ihr Leben zu bewältigen, trotz Feuer und Dürre. Die Gesichter heischen nicht um Mitleid, sondern zeigen Selbstbewußtsein, Stolz.

Ruth Baumgarte betreibt keinen Verklärungskult. Sie sieht genua hin, weiß um die Nöte der Menschen, die sich hilflos einer gealtigen Landschaft ausgeliefert sehen.

Die Feuersbrunst jagt übers Land, Flucht. (Bild Mitte). Wie klein ein Mensch in der gewaltigen Landschaft ist, die im Farbenrausch aufzubrechen scheint, zeigt ein und dasselbe Bild, einmal außen rechts: Der Mensch ist winzig, von der lebensharten,, bedrohlichen und doch herrlichen Landschaft fast verschluckt. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man ihn – den Menschen- ruhig stehend, abwartend – Bild links außen.

Ruth Baumgarte kann auch ohne Farben berühren. Ihre Zeichnungen zeigen das Leid der Frau, ganz ohne prächtige Farbgestaltung. Hilflos sehen die Figuren (Kinder?) zu, wie die Mutter erschöpft daliegt. Blut um sie.

Ein Jahr vor ihrem Tode 2013 gründete sie die Kunststiftung Ruth Baumgarte, deren heuriger Preisträger Athi Patra Ruga mit einigen interessanten Werken in der Ausstellung vertreten ist

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Die Ausstellung ist noch bis 5. März 2023 zu sehen.

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Arthur Schnitzler, Das weite Land. Akademietheater

Regie: Barbara Frey. Bühne: Martin Zehetgruber. Kostüme: Esther Geremus

Die Untoten sind passiv, manchmal lasziv, wenig kreativ, dank der Regie von Barbra Frey. Zu Beginn ist es stockdunkel – Thomas Bernhard hätte seine Freude an dieser totalen Finsternis! Aus dem Off spricht eine Stimme über Fliegen, Maden, Ameisen, die einen Leichnam auffressen, erklärt über gefühlte zehn Minuten, wie der frische Leichnam aussieht und wie er nach zwei Jahren aussieht. Der Text wirkt wie aus einem Readiokolleg von Ö1, ist nicht aus Schnitzlers Feder. Was dann folgt ist ein Trauerspiel über 2 Stunden ohne Pause. Vor einem dunkelgrau- schwarzen Vorhang stehen schwere, dunkelbraune Lederfauteuils, sonst nichts. In einem sitzt Genia (Katharina Lorenz), stumm, verstummt. Steif gefroren vor Langeweile in ihrem trostlosen Eheleben. Aus den Vorhängen schälen sich die weiteren Totfiguren heraus, alle sehr bedrückt – doch auch neugierig nach Sensationen: Warum hat sich der junge, begabte Korsakov erschossen? Verschiedene Gerüchte scheinen die Untoten ein wenig aufzuwärmen. Was dann folgt ist ein ziemlich amputierter Schnitzler. In diesem Untotenspiel wirkt selbt Erna (Nina Siewert), die von Schnitzler als kokette, lebneslustige junge Frau, die ihre ersten koketten Krallen an Hofreiter schärft, bechrieben wird, wie aus einer griechischen Tagödie entlehnt. Und Hofreiter, der galante, elegante Verführer, ist zu einem behäbigen, ziemlich lustlosen Verführer verkümmert (Michael Maertens). Hin und wieder gelingt es Maertens, so was wie einen Hofreiter à la Schnitzler hervorzuholen, ein paar treffende Bonmots über das Leben im Allgemeinen und über die Liebe, die es gar nicht gibt, im Besonderen, anzubringen. Dann wird sogar gelacht. Dass Genia und der junge Otto Aigner (Felix Kammerer) ein Verhältnis haben sollen, wirkt deshalb unglaubwürdig, weil dieser Otto eher wie ein Kind und nicht wie einer, der den Marinedienst antreten wird,, wirkt. Der Rest der Untoten sind Schattenfiguren, die das weite Land der Unterwelt bevölkern.

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Carsten Henn, Der Geschichten Bäcker. Piper Verlag

Dieses Buch ist eines der wenigen, das einen festen Platz in meinem Regal bekommt. Und oft herausgenommen wird, wenn ich einzelne Seiten lesen will. Oder wenn ich es einem ganz lieben Freund, einer Freundin borgen will. Aber nur denen, die keine Berührungsängste vor Emotionen haben. Ich sage: Endlich ein Buch, das nicht kopflastig, keine detailverliebte Nabelschau ist, das keine Moralpredigten, keine Lebensanleitungen, keine philosophisch-intellektuellen Abhandlungen als Roman verkaufen will – es ist schlicht und einfach ein Buch, das ich von der ersten Seite an liebte. Ich war traurig, als ich es zu Ende gelesen hatte. Eben, weil es zu Ende war. Wenn die Figuren des Buches sich ein wenig zurückziehen und das banale Alltagsleben mich wieder in den Klauen hat. Aber ich sage mir: es gibt die Figuren ja weiter, sie existieren, ich brauche sie nur abzurufen.

Wer sind diese Figuren? Die Tänzerin Sofie: Ihre Karriere als gefeierte Primaballerina wurde durch eine Verletzung abrupt beendet. Sie lebt im luftleeren Raum ohne Plan, ohne Aufgaben. Eine Situation, die vielen schon passiert ist. Wie soll es weitergehen? Ihr Mann ist Choreograph am Theater, wo sie bisher getanzt hat. Er versteht Sofies Rat- und Ruhelosigkeit, Versucht ihr auf seine Weise zu helfen. Aber wie das so ist mit den gutgemeinten Ratschlägen – sie werden zu Schlägen. Da tritt wie ein deus ex machina die Figur des Bäckers Giacomo in ihr Blick- und Lebensfeld. Er behandelt Leben, Menschen und alles Lebendige mit Liebe, Sorgfalt. Besonders auch seinen Teig, Deshalb ist sein Brot das beste weit und breit. Und er bringt Sofie das Brotbacken und die Liebe zum Leben bei. Wie das gehen kann, ist der Inhalt dieses Buches. ZAUBERHAFT!

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Theater in der Josefstadt: Erwin Steinhauer liest „Leviathan“ von Joseph Roth.

Musikalische Begleitung: Andrej Serkov auf dem Knopfakkordeon

Intensiv und schlicht – so lässt sich dieser Abend zusammenfassen. Erwin Steinhauer liest. Ruhig, gelassen fließt die klare Sprache Joseph Roths dahin. Er – Josph Roth und mit ihm Erwin Steinhauer – lässt sich Zeit, verbreitet dichte Bilder des fiktiven Städtchens Progrody, das nicht zufällig an Brody, die Geburtstadt Joseph Roths, anklingt: Bauern und Bäuerinnen kommen zum Wochenmarkt, es wird gefeilscht, danach geht man zum Korallenhändler Nissen Piczenik und kauft Korallen. Nicht irgendwelche, sondern sorgfältig ausgewählte und liebevoll gehegte. Die Korallen sind für Nissen Piczenik lebendige Wesen, mit Blut erfüllt. Sie kommen aus den Tiefen des Meeres, wo Leviathan sie bewacht. Steinhauers Stimme lässt ein Kopftheater mit dichten Bildern entstehen. Wir sehen die Bäuerinnen, die sich die Korallenketten umglegen, wir sehen das Städtchen, wie es vor mehr als 150 Jahren ausgesehen haben mag. Wir sehen Nissen Piczenik, lassen im Kopf sein Bild entstehen.

Dazwischen spielt Andrej Serkov auf seinem Knopfakkordeon. Seine Töne zaubern ebenfalls Bilder in unsere Seele. Einmal sind es die Korallen, die wie Perlen durch die Hände der Bäuerinnen rieseln, dann hört man die Töne des Dorfes, meint die schweren Schuhe auf dem unebenen Pflaster zu vernehmen.

Dann wird Piczenik vom Teufel versucht – Lakatos liefert Plastikkorallen. Die Bauern verlieren den Respekt vor dem Echten, kaufen den Plunder. Und Piczenik kauft ebenfalls, mischt die echten mit den unechten. Erliegt der teuflischen Welt des Billigmarktes. Verzweifelt über seinen Treuebruch, beginnt er zu trinken. Verkommt. Steigt in den Zug. Wieder begleitet ihn und uns die Musik Serkovs, der Zug wird schneller, rast dem Ziel, dem Hafen zu, wo der Korallenhändler ein Schiff besteigt, das ihn nach Kanada bringen soll. Doch er überlegt es sich anders, gibt seinem Wunsch, zu seinen geliebten Korallen hinabzusteigen, nach und stürzt sich in die Tiefe. Andrej Serkov lässt ganz leise die Wellen über Nissen Piczenik zusammenschlagen. Stille. Lange Zeit schweigt das Publikum, lässt das Kopftheater weiter wirken. Spät erst kommt Applaus auf und dankt für einen Abend, ganz frei von Regieeitelkeiten. Wort und Musik waren die Hauptakteure.

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Konversationen im Herrenhof: Olga Schnitzlers Talkshow mit Joseph Roth

Olga Schnitzler: Elisabeth-Joe Harriet. Joseph Roth: Ralph Sami. Idee, Buch, Regie: Elisabeth-Joe Harriet

Heiter plaudernd marschiert das Paar in das (imaginierte) Café im Herrenhof ein: Olga Schnitzler im Midikostüm der Epoche, Joseph Roth im dunklen Anzug mit Fliege. Sie wundert sich über sein elegantes Auftreten, er darauf: „Wenn ich schon Urlaub aus der anderen Welt und wieder einen Körper habe, muss ich das ausnützen.“ Danach, ganz perfekte Gastgeberin. bietet ihm Olga Wasser an. Roth enttäuscht: „Nur Wasser? Sonst nix?“ Natürlich ist auch Wein da, er fragt nach dem Korkenzieher. Wird nicht mehr gebraucht – Drehverschluss. Staunen über die fremde neue Zeit. Solche Spielchen zwischen den Zeiten liebt Olga und spielt sie mit allen ihren Gesprächspartnern (Karl Kraus, Hofmannsthal, Berta Zuckerkandl). Nach diesem heiteren Geplänkel möchte sie mit seiner Geburtsstadt Brody beginnen, was er nicht so gerne hat. Brody wäre doch nur eine unbedeutende Provinzstadt gewesen. Da hält ihm Olga, die immer eifrig recherchierende, seinen eigenen Text über Brody unter die Nase: „Er lese ihn bitte vor“. Und während nun Joseph Roth liest, klappern draußen die Fiaker vorbei. Im Kopf der Zuhörer verschmilzt die Gegenwart zur aktuell sich abspielenden Vergangenheit, die Vergangenheit Joseph Roths: Die zerbrechliche Beziehung zu seiner Mutter, der nicht existierende Vater, der durch das Idealbild des Kaisers ersetzt wurde. sein Aufstieg zum gutverdienenden Journalisten und Romancier („Hiob“ war ein Riesenerfolg, tolle Verkaufszahlen). Roth: „Ja, ich habe mein Leben schön fabuliert!“ Doch früh schon die Erkenntnis, dieser Hitler ist eine große Bedrohung. Seine Liebe zu seiner jungen und schönen Frau Friederike, seine Selbstvorwürfe, sie in der Krankheit im Stich gelassen zu haben. Immer wieder Warnungen vor Hitler, dem Kriegstreiber,und schließlich 1933 seine Abreise ins Exil nach Paris. Dort endet die „Konversation“, Olga Schnitzler wollte keinen vom Alkohol zerstörten Schriftsteller dem Publikum zeigen, sondern das feinfühlige Sprachgenie, das so vieles mehr als alle anderen Zeitgenossen sah, verstand und in seinen Werken poetisch, dokumentarisch und journalistisch verarbeitete.

Alle Aktivitäten, Reisen, Theaterabende unter:

http://elisabeth-joe-harriet.com

Puccini: La Bohème. Volksoper Wien.

164. Vorstellung. Neueinstudierung: Angela Brandt

Regie: Harry Kupfer (1935-2009)

Ein Abend des musikalischen Wiedererkennens und Erinnerns. Harry Kupfers dem Realismus verschriebener Regie, die Personenführung gepaart mit dem praktischen und eher unromantischen Bühnenbild von Reinhart Zimmermann ergaben einen Abend des fast puren Operngenusses. Fast – weil Carlo Goldstein meinte, er müsse Kupfers Regie durch ein erdiges und oft sehr deftig-lautes Dirigat betonen. So ging die zauberhafte Kennenlernszene von Rodolfo und Mimi im Getöse des Orchesters unter. Anett Fritsch als Mimi und Giorgio Berrugi als Rodolfo hatten große Mühe, ihre Stimmen über den Orchestergraben hinwegzutragen. Beide passen in die Rollen stimmlich und schauspielerisch gut, wenn das Orchester ihnen die Möglichkeit lässt, ihr Können zu beweisen.

Harry Kupfers Regiekonzepte waren dem Realismus eines Bert Brecht verpflichtet: Gutes, solides Bühnenbild, keine Extravaganzen in der Interpretation, sondern immer dem Werk treu ergeben. Ein Parsifal im Gefängnis – wie man ihn letztens in der Staatsoper in Wien zu sehen bekam – wäre ihm nie in den Sinn bekommen. Seine Figuren sind, was der Komponist in sie hineinkomponierte: Menschen, und keine Metafiguren. Daher musste sich der Zuhörer nie mit sonderbaren Regieeinfällen plagen und darüber die Musik „überhören“. Deshalb sorgt die Wiederaufnahme der Bohème für ein fast „neues“, weil seit Jahren nicht mehr erlebbares – Opernerlebnis: Einfach dem Komponisten und dem Regisseur zuhören, was er uns erzählt: Das Leben von jungen Leuten, die auf die Borugoisie pfeifen, nichts ernst nehmen, bis dann das Leben sie ernst nimmt. So greift Kupfer im 2. Akt in die volle Lebenslust, lässt Kinder, Gaukler und Menschen tanzen, singen, um dann im 3. Akt die trübe Wirklichkeit um so stärker wirken zu lassen. Unromantisch und sehr realistisch beschließen Mimi und Rodolfo nicht im Winter sich zu trennen, sondern erst im Frühjahr, wenn die ersten Blüten den Schmerz mildern. Und ganz schnörkellos und schlicht stirbt Mimi. Fast unbemerkt. Kein Tränendrama, sondern harte Realtiät.

Gespielt und gesungen wird von dem Ensemble mit großem Einsatz, wenn der Dirigent ihnen die Chance gibt. Neben den beiden Protagonisten fallen Lauren Urquhart als Musetta und Andrei Bondarenko als Marcello stimmlich und schauspielerisch auf. Leider kam die berühmte „Mantelarie“ des Colline (Aaron Pendleton) zu unspektakulär über die Bühne. Die in ihr enthaltene Gesellschaftskritik blieb ungehört. Zusammenfassung: Ein wichtiger Abend, der so manche Regisseure an ihre eigentliche Aufgabe erinnern sollte: Nicht die Egomanie mit unverständlicher und skandalträchtiger Regie befriedigen, sondern dem Werk und der Musik sich unterordnen!

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Edith Schreiber-Wicke: Im Schatten deiner Flügel.Amalthea Verlag

Schreiber-Wicke ist bekannt als Kinder- und Jugendbuchautorin. In ihrem ersten Buch für Erwachsene beweist sie trockenen Humor, Beobachtungsgabe und Sprachwitz, gepaart mit genauen Recherchen. Als Thema wählte sie die Judenverfolgung in Venedig ab September 1943. Ein unangenehmens Thema, das, so die Autorin im Buch, von vielen bis heute in die Kiste der Vergessens gesteckt wird. Die an der Wiener Oper als Star gefeierte Sängerin Lilly Salomon versteckt sich in Venedig, weil sie – und viele andere auch – meint, dass Mussolini Juden nicht verfolgt. Ein lebensbedrohlicher Irrtum! Im September 1943 werden alle Juden Italiens aufgegriffen und in Lager verschickt. So auch Lilly Salomon. Damit endet der erste Teil der Geschichte, die spannend und interessant geschrieben ist. Immer wieder verbindet die Autorin das Schicksal Salomons mit der Geschichte Toscas, die von Scarpia bedrängt wird. Auch Lilly läuft ihrem Scarpia in die Arme, dem machtbesessenen Conte Montanara. Wenn er sie nicht besitzen kann, will er sie zerstören….Sie wird von der italienischen Polizei abgeführt.

Dann springt Schreiber-Wicke 75 Jahre weiter, ein Toter wird aus der Lagune gefischt. Die polzeilichen Ermittlungen laufen an. Es gibt einen Commissario, eine elegante Assistentin, einen golfspielenden Chef, der sich nicht sehr um die Ermittlungen kümmert, und vieles mehr, das wohl ganz bewusst an Donna Leons Krimi erinnert. Die Parallelen sind gewollt, und es macht Spaß, die zahlreichen déjà -us zu entdecken. Weniger die umständlichen, mit allzu großer Detailverliebtheit geschmückten, wenn auch sprachlich witzigen Beschreibungen und Wiederholungen. Dem Labyrinth der Nachforschngen des Commissario und seinem Team folgt der Leser zwar mit Interesse, aber die Schlingen, Verirrungen, Abschweifungen ermüden ein wenig. Von Lilly Salomon ist kaum mehr die Rede, erst am Schluss gibt es eine Andeutung, dass sie vielleicht überlebt hätte. Ihr (erfundenes) Leben weiter zu erzählen wäre spannender gewesen als die umständlichen Ermittlungen des Commissario. Was man aber wirklich genießt, sind die ironisch-kritischen Blicke, die die Autorin auf Venedig, die Venezianer und die Touristenmassen wirft. Sie kennt diese Stadt wie ihre sprichwörtliche Westentasche!!

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Wiener Konzerthaus: „Capucelli“ im Zyklus „Grenzenlose Musik“

Der Titel ist Programm: Gautier Capucon und sechs junge Cellisten aus der „Classe d`Excellence de Violoncello“ der Fondation Louis Vuitton Paris offerierten ein buntes Programm, gut gemischt aus klassischen und eigens für diese Gruppe komponierten Werken. Spannend, aufregend. Zum Rahmen „Grenzenlose Musik“ passend kommen die Musiker und Musikerinnen aus verschiedenen Ländern: Frankreich, Österreich, Belgien, Deutschland. Alle haben bereits eine internationale Karriere vorzuweisen.

Ein Musikabend wie dieser löst Reflexionen aus: Man spricht überall von der Krise des Theaters, ja der Kultur im allgemeinen. Führt diverse Gründe, wie Pandemie, Krieg oder Umweltprobleme an, die die Menschen vom Besuch eines Kulturevents abhalten. Aber dass dieser Abend ausverkauft war – wie passt das? Die Erklärung ist einfach: Musik, wie sie an diesem Abend erklang, schafft Bildertheater im Kopf. Der Zuhörer muss sich nicht von dümmlichen Einfällen diverser egomanischer Regisseure quälen lassen – er ist sein eigener Regisseur. Und es waren intensive Bilder, die die Capucelli auslösten!

Mit Astor Piazzollas „La muerte del Angel“ wird das ungewöhnliche Programm eröffnet: Keine Tangostimmung, sondern eher verhaltene Trauer. Léo Delibes „Viens Malika“ ist Romantik pur. Spannend, aufregend dann „The Forest“ von Bryce Dessner, eine Komposition eigens für diese sieben Cellisten. Er wurde durch den Brand der Nôtre Dame dazu inspiriert, als die uralten Eichenbalken langsam verbrannten und zu Boden krachten. Hohe Spannung, das Feuer greift um sich, was für die Ewigkeit geschaffen wurde, stürzt in sich zusammen. Die von der Musik evozierten Bilder sind stark!

Das Programm liefert ein Wechselbad der Gefühle: Auf das Schwere folgt Leichtes: Bela Bartok bittet zum Tanz. Gleich darauf rührt das Stück „Lasst mich allein“ zu Tränen: Antonin Dvorák setzt seine Trauer um die von ihm geliebte Schwägerin Josefina Cermakova in zu Herzen gehende Musik um. Getreu dem Motto auf Schweres folgt Leichtes wiegen die sieben Celli das Publikum in zärtlichen Walzertönen von Tschaikowsky, darauf führt Edvard Grieg Peer Gynt in die Halle des Bergkönigs. Interessant, wie Guillaume Connesson seine Liebe zu Gärten in Musik transponiert: Im „Jardin angleis“ sehen wir lange Blickachsen, elegante Landschaften, der „Jardin japonais“ bleibt abstrakt, kühl, während man im „Jardin francais“ Gekicher, Gekose, Zärtlichkeiten, Tratsch und Intrige mithört. Die drei Stücke wurden ebenfalls für diese Gruppe der Cellisten komponiert. Caroline Sypniewski übernimmt die Melodienführung als Carmen von George Bizet. Und wie! Musik und Körper sind eins. Sie IST Carmen, ihr Cello ist Carmen. Grandios! Mit Maurice Ravels „Bolero“ und Bernsteins „Manbo“ aus der Westsidestory reißen die Capucelli das Publikum zu standing ovations hoch. Den begeisterten Applaus belohnen sie mit zwei Zugaben.

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Max Frisch: BIOGRAFIE: EIN SPIEL

Theater Akzent, eine Koproduktion von STEUDLTENN &Waldviertler Hoftheater

Regie: Hakon Hirzenberger

Landauf, landab wird die „Biografie“ gespielt, in Salzburg, in Chemnitz und nun im Theater Akzent in Wien. Woher dieses plötzliche Interesse? Für ein Stück, in welchem die oft gestellte Frage: Was würde ich in meinem Leben anders machen, wenn ich nochmals beginnen könnte, Zentralthema ist. Die meisten stellen sich diese Frage, wenn überhaupt, nur theoretisch. Doch der Gedanke wird nie thematisiert, höchstens in einer Freundesrunde als Gesellschaftsspiel. Max Frisch hat sich diesen Gedanken zum Leitmotiv seiner Werke gemacht, wie in den Romanen „Mein Name sei Gantenbein“ und „Stiller“ und eben ganz deutlich im der Komödie „Biografie“. Ein anderer sein zu wollen, sein gelebtes Leben, seine Vergangenheit zu ändern, bestimmen zu können, wie neu begonnen werden kann und schließlich die Erkenntnis: Die großen Lebenszüge kann keiner ändern, Veränderung geschieht nur in Minimalstrukturen, in der Person selbst. Eigentlich banale Erkenntnisse, die Max Frisch in eine eher trockenen „Komödie“ im Stil der Brechtschen Verfremdung geschrieben hat. Was also ist an dem Thema heute so reizvoll? – Wahrscheinlich entsteht in Krisenzeiten in vielen der Wunsch, dieses aktuelle Leben voller Probleme in irgendeiner Form hinter sich zu lassen, ein anderer werden. Sich von Ängsten und Zwängen befreien und einfach so zu tun, als hieße man Gantenbein oder eben Hannes Kürmann, der sich ein „Leben ohne Antoinette“, seine Ehefrau, wünscht.

Dem Regisseur Hakon Hirzenberger gelingt es, durch intelligenten Einsatz von Slapstick-Versatzstücken aus dem eher theoriebeladenen Stück tatsächlich eine Komödie zu machen. Dank einer bestens eingespielten und hoch talentierten Schauspieltruppe: Manuel Witting gibt den mit seinem Leben unzufriedenen Professor Hannes Kürmann, geradlinig und lakonisch-verzweifelt. Alexander Braunshoer den nüchternen, strengen Spielleiter, der über den kindischen Versuch, ein anderes Leben zu wünschen, und Zynismus fragt: „Was machen Sie dann mit Ihrer Freiheit?“ Und gleich selbst die ernüchternde Antwort gibt: „Es ändert sich nicht viel“. Runa Schymanski ist die Ehefrau Antoinette, die Kürmann aus seinem Leben ausgelöscht wissen will. Sie erschießen ist keine Lösung, besser sich selbst erschießen?! Um diese drei Hauptpersonen wuseln an die 30! gefühlte andere Gestalten herum, dargestellt von den beiden Verwandlungskünstlern und Komikertalenten: Lisa Lena Tritscher und Thomas Frank. Sie sind Putzfrau, Gäste, Professorenkollegen – kurz alles, was aus diesem Stück eine „intelligente Komödie“ macht.

Man spricht von einer allgemeinen Theaterkrise – an diesem Abend war davon nichts zu spüren. Publikum und Schauspieler waren eine Einheit. Das geschah, weil der Regisseur kein Regietheater zur Befriedigung seiner Eitelkeit ablieferte, sondern solide Arbeit, gut durchdacht!!!

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„Wenn sie nicht reitet, schreibt sie Romane“, schreibt der Verlag auf der Rückseite des Covers über Karen Duve. Zum Beispiel einen über Kaiserin Elisabeth. Nein, eher über „Sisi“, gemeint ist die Kaiserin ganz privat. Um allen von vornherein klar zu machen, worum es in diesem Buch geht, zieren die beiden Zirkuspferde der Kaisern, Flick und Flock, das Titelbild. Die beiden wurden von Elisabeth persönlich dressiert – sie sollten aufsteigen und das andere Pferd gleichsam umarmen lernen. Sind ja Zirkuspferde, dachte wohl Elisabeth, die müssen all diese (unnötigen) Dressuren über sich ergehen lassen. Wie wenig Sisi die Pferde liebte, zeigt Duve in den Passagen, wo sie ohne Rücksicht auf Verluste die Pferde bei Fuchsjagden oftmals fast zu Tode hetzt. Sie hätschelt zwar die Pferde, striegelt sie auch manchmal selbst, aber im Grunde ersetzen ihr die Tiere einen Therapeuten und Eheberater. Reiten ist für Elisabeth Obsession, Herausforderung, an die äußersten Grenzen zu gehen, den Kaiserhof und alle Probleme im rasenden Galopp hinter sich zu lassen. Reiten gibt ihr die absolute Freiheit, die Loslösung von allen Bindungen.

Duve beginnt ihre romanhafte Darstellung der viel bewunderten Kaiserin mit der Beschreibung einer dieser grausamen Hetzjagden auf Füchse, wie sie in England damals beliebt waren. Je gefährlicher, je rasanter und wilder so eine Jagd ist, desto wohler fühlt sich Sisi. England galt damals (circa 1870) als das Mekka für Fuchsjagdreiter. Leider sind die Passagen der Jagdschilderungen im ganzen Werk allzu hervorherrschend, bestimmend, da verliert eine Nichtreiterin – so wie ich – schnell das Interesse an den überpräzisen Beschreibungen, angefangen von Kleidung bis zur Jagd- und Gesellschaftsordnung. Denn es ist klar, da darf nicht Hinz und Kunz mitreiten. Man kann ja über diese ausführlichen Passagen hinweglesen, denn Karen Duve liefert daneben noch genügend interessanten Stoff: Da lesen wir keinen Funken von Verehrung für die Kaiserin. Duve lässt sie als kaltherzig und nur auf ihren Vorteil bedacht erscheinen, als eine Frau, die dank ihrer Position über das Leben anderer bestimmt. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, entreißt sie ihre Nichte Marie Louise ihren Eltern und Freundeskreis, um sie zu einem ihr hörigen Geschöpf zu erziehen. Über die Hofdamen Marie Festetics und Ida Ferenczy bestimmt sie, als wären sie ihr Eigentum. Mit welcher Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit sie ihrem Sohn Rudolf und ihrem Ehemann gegenüber agiert, lässt beim Leser manchmal Zweifel aufkommen, ob er es mit einer Biografie zu tun hat oder nicht doch eher einem Roman. Doch die Autorin beruft sich im Nachwort auf verlässliche Quellen. Sie scheint, wie so viele Menschen damals wie heute, zwischen Bewunderung – was die Reitkünste betrifft auf jeden Fall – und ironischer Ablehnung gegenüber der Kaiserin zu schwanken. Auf jeden Fall bereitet die Lektüre dem voyeuristischen Leser – und das sind wir im Grunde ja alle – großes Vergnügen.

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Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Wagenbach

Chapeau der Übersetzerin Barbara Kleiner, die diesen geborstenen Staudammwortschwall an Bösartigkeiten ins Deutsche übersetzte.

Und Chapeau natürlich der Autorin, die immer neue, noch grauslichere Bilder für die Wut, den Frust der Hauptakteurin erfand.

Und natürlich Chapeau allen Lesern, die diesen Schwall an Hass lesen. Man glaubt bei der Lektüre, all dieser unaufgestaute Hass, den Gaia den Mitmenschen ins Gesicht und dem Leser in die Seele spuckt, schleudert, bleibt an der Haut kleben, lässt sich nicht mehr abkratzen. Es ist zu empfehlen, dieses Buch nicht vor dem Einschlafen zu lesen. Albträume sind erwartbar.

Gaia wächst in engsten Verhältnissen in einem kleinen Ort am Braccianosee auf. Mutter Antonia hält mit Putzen die Familie beisammen, so gut es geht. Gaia rebelliert gegen die Mutter, ihren Perfektionismus. Zugleich aber möchte sie ihr beweisen, dass sie das Leben besser im Griff haben wird: durch Bildung. Sie strebert, strebert sich aus der Verachtung der Mitschüler in eine gewisse Achtung hinauf. Doch wirklich ist niemand an ihrer Seite. Auch nicht Iris, die alles für diese seltsame Außenseiterin tut. Wenn Gaia von irgendjemandem enttäuscht wird, dann rächt sie sich – einmal durch Brandschatzung, ein andermal durch versuchten Mord, Als Leserin konnte ich dieser Figur nur eingeschränktes Verständnis entgegenbringen, gerade so viel, wie man für ein schizophrene Person hat. Und irgendwie will die Autorin auch klarmachen, dass wir es mit einer Kranken zu tun haben. Die Wellen der Wut kommen abrupt, sie bleiben lange und vernichten viel. Für dieses Buch braucht man einen langen Atem, viel Geduld, um all diese Hasstiraden auszuhalten. Bewundernswert ist das reiche Repertoire an Bildern für die Hasszustände. Allerdings – so überbordend – ermüden sie die Geduld des Lesers. Weniger wäre mehr!

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Elisabeth Joe-Harriet: Constanze Mozart erzählt ihr Leben. Ort: Haus für Mozart, Domgasse 5 Wien

Gar keine kleine Schar wartet im Foyer des Mozarthauses auf SIE. Bevor sich leichte Ungeduld breit macht, guckt eine weiße Spitzenhaube um die Ecke. Darunter staunen große Augen in die Schar: „Was so viele Leut kommen mi heut besuchen!?“ Da Constanze und ihre Familie aus dem Raum Mannheim stammen, spricht sie Badisch! Diesen Dialekt wird sie ihr ganzes Leben lang pflegen. Und auch während wir sie besuchen, erklärt sie witzig, humorvoll und detailreich im breitesten Dialekt, wie sie sich in Mozart verliebt hat. der aber am Anfang nur Augen für die Schwester Aloisia, die mit der schönen Stimm und dem schönen Gsicht, gehabt hat. Aber Costanze ist hartnäckig, lässt sich den Mozart auch nicht von Mutter Weberin ausreden. Die Heirat war bescheiden, ohne Pomp. Nach vielen Umzügen dann endlich diese feudale Wohnung in der Domgasse 5 mit allen Räumen, wie sie für so eine respektable Person wie Mozart dazugehörten: Spielzimmer und Empfangssalon inbegriffen. Während Constanze plaudert, teilt sie die kleinen goldenen Marzipankugeln aus: „Wenn das der Mozart wüßt, daß ma ihn in a Kügele steckt“, kichert sie. Während des Rundgangs korrigiert sie immer wieder die Irrtümer oder Gerüchte, die sich um ihren Mann rankten, etwa, dass die Familie bitterarm war. Geld wäre schon genug da gewesen, aber die Ausgaben waren hoch. So mussten immer wieder Schulden gemacht werden. Von Salieri sei er „ganz gwiss net“ vergiftet worden. Salieri und Mozart waren enge Freunde. Über den Tod des geliebten Mannes erzählt sie nur wenig, um nur ja keine Rührung aufkommen zu lassen.

Beendet wird der Rundgang in dem Foyer vor dem Kaffeeautomaten. Constanze serviert ihren Besuchern Kaka -o – gar nicht so übel, aus diesem Ding da, meint sie. Kaka-o und Punsch waren Mozarts Lieblingsgetränke. „Kaka-o sei guat gegen die Kaker-ei“, soll er gerne gesagt haben. Unter heiterem Geplauder endet der Besuch. Die Gäste bekommen noch eine Kopie des Briefes mit, in dem Mozart Constanze seine Liebe gesteht.

Wer mehr über Mozarts Wirken in Wien, über die Orte, wo er sich aufgehalten hat,erfahren will, dem sei das Buch von Elisabeth Joe-Harriet empfohlen: Wolfgang Amadé, Dichtung und Wahrheit. Was Sie schon immer über Mozart wissen wollten. Mozart geliebter Hund Gaukerl führt launig zu all den Wirkungsstätten des musikalischen Genies. Man kann auch eine Führung durch Mozarts Wien mit der Autorin buchen. Alle Infos dazu und zu allen Aktivitäten dieser vielseitig begabten Schauspielerin: www.elisabeth-joe-harriet.com

Theater in der Josefstadt: Anna Karenina von Leo Tolstoi

Amelie Niermeyer und Armin Petras nach Leo Tolstoi unter Verwendung der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze

Titelfoto: Alma Hasun als Kitty und Alexander Absenger als Lewin.

Durch die interessante und gut durchdachte Regie von Amelie Niermeyer bekommen die Figuren genau die Charakterkonturen, die ihnen Tolstoi im Roman gab. Das gelingt einerseits durch eine genaue Personenführung, andrerseits durch den Einsatz von Originaltexten, die in die Dialoge ein- oder dazugefügt werden. Texte, die das Innere der Personen tiefer aufschließen als der Dialog und die Handlung es vermögen. Dazu ein Bühnenbild (Stefanie Seitz), das flexibel und ohne Umbauten den jeweils nötigen Raum imaginiert – den Bahnhof, das Stadtpalais, den Eislaufplatz, die Kirche etc. Die Kostüme (Christian Schmidt) sind zeitlos elegant, können heutig, gestrig oder vorvorgestrig sein. Sie passen sich genau dem Charakter der Figur an: Anna in schlichten, eleganten Kleidern, Kitty in verspielten, in Farben überlaut, wie auch ihr anfängliches Temperament Die Männer im von Moden unabhängigen Stil.

Also die besten Voraussetzungen für ein Ensemble, das die Rollen ausfüllt, als ob sie aus dem Roman herausgeschnitten wären. Klar setzt die Regisseurin die drei Paare voneinander ab: Alma Hasun in der Rolle der quirligen Kitty ist ein Sprühregen an Temperament. Bewundernswert, wie sie über das Eis tanzt, passend zum Text Kapriolen zieht. Um sie herum tanzt Lewin als komischer Kauz (Alexander Absenger), wirbt, zögert, zittert, philosophiert, macht ihr auf dem Eis rutschend einen Heiratsantrag, den die verwirrte Kitty ablehnt. Lewin, der Bauer und Philosoph, spiegelt die Gedanken Tolstois wieder, seine sozialen Ideen zur Bodenreform. Weiters das in steter Ehekrise lebende Paar Dascha (Alexandra Krismer) und Stepan (Robert Josef Bartl). Was aus einer großen Liebe im Laufe der Jahre und nach vielen Seitensprüngen des Mannes und großem Frust der Ehefrau wird – das zeigt Niermeyer mit viel Humor. Wie überhaupt immer wieder Szenen eingefügt sind, über die man schmunzeln kann. Etwa der Ball und die Quadrille, die Szenen auf dem Eis – da führen Hasun und Absenger gefährliche Akrobatik auf -, oder die Hochzeit von Kitty mit Lewin, der sich verspätet, weil er kein Hemd findet. Stepan, der Lebensgenießer und Frauenverführer, hat die Aufgabe, alles Tragische durch humorvolle Einfälle zu relativieren und auf eine menschlich-verständliche Ebene zu transponieren. Begleitet und untermalt werden solche Einlagen durch schräge Musik- und Tanzeinlagen (Imre Bozoki). Köstlich sind die Tanzparodien, die Kitty oder Stepan so mitten im Geschehen aufs Parkett hinlegen. Humor und schräge Musik – wie soll sich das aus dem Roman erklären, haben vielleicht einige Besucher kopfschüttelnd gefragt. Es passt, weil es die großen Worte „Liebe“ und „Tragik“ relativiert.

Auffallend ist, dass die Regisseurin die beiden Hauptfiguren Anna (Silvia Meisterle) und Wronsky (Claudius von Stolzmann) nicht unbedingt immer in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Sie agieren mit den anderen, beeinflusst von der Gesellschaft, in deren Mitte sie leben. Das bekommt besonders Anna zu spüren. Silvia Meisterle ist eine beeindruckende Anna, die sich zunächst ihrer Stellung bewusst ist, bis ihr diese zur Fessel wird und sie sie abstreift. Heftig und berührend sind die Liebesszenen. Nackt, in inniger Umarmung, den Augen des Publikums ausgesetzt, direkt an der Rampe. Eine tief berührende Szene. Wronsky ist Liebhaber ohne eitles Gehabe. Und am Ende ein Verzweifelter, weil er Anna nicht aus ihrem eifersüchtigen Wahn und der Angst vor den gesellschaftlichen Konsequenzen befreien kann. Interessant ist auch, wie Karenin, der Ehemann Annas, von Raphael von Bargen dargestellt wird. Im Roman ist er ein steifer Beamter, der nur für seine Karriere und das gesellschaftliche Ansehen lebt. Anders aber nun: Als er von der Beziehung Annas zu Wronsky erfährt, versucht er noch einen Weg zu finden, der lebbar wäre. Man hegt durchaus Sympathien für ihn. Aber die Unerbittlichkeit Annas macht ihn hart und so treibt er Anna in das gesellschaftliche Abseits.

Die großartige Leistung des ganzen Ensembles wurde mit viel Applaus belohnt.

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Das Ensemble „TANGO5“ der Wiener Symphoniker spielte Piazzolla und Händel

Titel: Rhythmus und Dynamik. Ort: Bassano Saal im Kunsthistorischen Museum – im Rahmen der Reihe: Donnerstagabend im Kunsthistorischen

Besetzung: Sophie Heinrich Violine, Ivaylo Jordanov Kontrabass, Andrea Wild E-Gitarre, Maria Radutu Klavier, Milos Todorovski Bandoneon

Die Wiener Symphoniker sind für ihre Vielseitigkeit und innovativen Ideen für Aufführungsorte bekannt. Sie spielen in Gaststätten, an ungewöhnlichen Orten in den Wiener Bezirken und eben auch im Kunsthistorischen Museum. TANGO5 wurde 2021 gegründet mit dem Ziel, den „Tango Nuevo“ von Astor Piazzolla dem Publikum näher zu bringen. Mit Einsatz und Mut zum Experiment beeindruckten sie an diesem Abend im Bassano Saal des Museums, der bis zum letzten Platz gefüllt war.

„Ja, wir können auch Tango spielen“, begrüßte Sophie Heinrich humorvoll das Publikum. „Und ja, wir sind überzeugt, Händel und Tango gehen wunderbar zusammen!“ Die Gemeinsamkeit liegt in der starken Emotionalität. In der Oper „Giulio Cesare in Egitto“ geht es um ganz große Dramatik und Liebe. Die vom Ensemble ausgesuchten Stücke – Ouvertüre, die Arie der Kleopatra „Piangero la sorte mia“ und „Da tempeste il legno infranto“- sind Musik voller Traurigkeit, Sehnsucht – Elemente, die sich im Tango wiederfinden.

Jeder Tango erzählt von Sehnsucht und Schmerz, die unerfüllte Sehnsucht ist süßer Schmerz, vom Bandoneon in langanhaltenden Tönen und langsamen Rhythmen interpretiert. Daher kein Tango ohne Bandoneon! Der Bandoneonspieler Milos Todorowsi war akklamierter Meister dieses Instruments, Sophie Heinrich eine temperamentvolle Geigerin, die den Rhythmus trug, Maria Radutu eine einfühlsame Klavierspielerin, Anna Wild brillierte auf der E-Gitarre und Ivaylo Jordanov ein sicherer Kontrabassist, der für den dunklen Untergrund sorgte.

Buenos Aires ist Tango, ist schön und hässlich, ist elegant und verlottert, ist banal und interessant. Ist Musik, Duft und stinkender Höllenlärm. Tango und Buenos Aires sind eins, ein faszinierendes und verwirrendes Konglomerat“, schrieb ich einmal während einer meiner zahlreichen Aufenthalte in Buenos Aires. Und weiter heißt es in meinen Aufzeichnungen:

 „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach die Welt plötzlich von der reichen Stadt Buenos Aires. Aus Europa holte man sich Architekten und Künstler, um aus der namenlosen Stadt ein neues Paris, London, Madrid und New York zu machen.  Mit an Bord waren die Armen aus allen Teilen Europas: Italiener, Spanier, Polen, Franzosen, Engländer, die nichts weiter mitbrachten als die Sehnsucht nach ihrer Heimat, ihre Musik und die Hoffnung auf das große Geld. Geblieben sind die Sehnsucht und die Musik. Aus der Hoffnung wurde Hoffnungslosigkeit, und aus dem Gemisch von allem entstand der Tango. In den Bars und auf den Plätzen der Vorstädte tanzten die Einwanderer ihre Enttäuschungen weg, sangen von Liebe, Betrug, untreuen Frauen und dem großen Unglück des Lebens. Der Tango war bittersüß, melancholisch, erotisch und oft auch politisch brisant, daher auch lange Zeit bei den braven Bürgern verpönt. Aber die Verlockung dieser Musik war zu groß. Bald erlag ganz Buenos Aires dem Tangofieber, der Tango wurde salonfähig. In jedem Viertel gab es Tanzsalons, Tangoorchester und Tangosänger. Der Sänger Carlos Gardel, der Komponist Astor Piazzolla und Dichter wie Jorge Luís Borges oder Horacio Ferrer machten den Tango weltweit bekannt. Heute verleiht der Tango jedem Stadtviertel von Buenos Aires einen speziellen Mythos, eine unverwechselbare Aura, in die einzutauchen es sich lohnt. Wie und wo man Tango tanzt, das wird zum Signum des Viertels. Nur wenige „barrios“ (Stadtviertel) sind tangofrei.

Ich entkomme ihm nirgendwo. Sich gegen ihn zu wehren, ihn negieren zu wollen ist sinnlos. Er ist das ideale Instrument, mit und in der Stadt zu leben, ihren Puls zu spüren und vom Zuschauer zum Mitmacher aufzusteigen. Und so verbringe ich meine Sonntage in San Telmo. Vor mehr als hundert Jahren zogen die reichen Bürger aus Angst vor der Cholera weg, und Arbeiter aus der Vorstadt nahmen die Patrizierhäuser in Besitz. Der Putz blätterte ab, die Fenster wurden blind, die Gehsteige voll mit Abfall. Diese vernachlässigte Pracht ist heute der ideale Background für Tango und lockt Tänzer und Nichttänzer an. Aus den Cafés, den Wohnungen und Tanzsalons ertönt Tangomusik bis in den frühen Morgen.

Jeden Sonntag tanzen auf der Plaza Dorrego mitten zwischen Buden voll mit Trödel und so genannten Antiquitäten Profitänzer. Hitze oder Regen scheinen ihnen nichts auszumachen. Wenn sie am Abend das Feld räumen, dann ziehen die Hausfrauen von San Telmo Tanzschuhe an und tanzen mit Ehemann oder Sohn bis spät in die Nacht. Sie tanzen ihren eigenen Stil, schwungvoll, erotisch und gefühlvoll. Ich mische mich mit Begeisterung unter sie, weil ich auf den Dichter Horacio Ferrer vertraue, wenn er sagt: „In Buenos Aires ist jeder ein „tanguero“, (einer, der den Tango liebt), auch wenn er nicht tanzen kann.“

Warum ich an dieser Stelle meinen persönlichen Erinnerungen so großen Raum gebe? Weil ich an diesem Abend gespannt warte, ob der Tango, wie ihn das Ensemble spielt, mich erreicht, mich die Gegenwart und den Raum um mich herum vergessen und Buenos Aires in mir aufsteigt lässt. Zum Großteil ist es gelungen, besonders während des Tangos „Adios Nonino“. Vielleicht auch, weil gerade dieser Tango zu meinen Lieblingsstücken zählt und ich oft nach seiner Sehnsuchtsmusik getanzt habe. Das Ensemble spielt den ersten Teil in einem auffallend aggressiven Rhythmus, wodurch im langsamen Mittelteil Sehnsucht, Melancholie und die Unerfüllbarkeit der Hoffnungen umso stärker wirken. Berührend war auch der Tango „Alone“, von Milos Todorowski komponiert und allein mit seinem Bandoneon ohne andere Begleitung gespielt.

Resümee des Abends: Ein Fest für die Sinne. Das Ensemble wurde bejubelt. TANGO5 wird am 3. Dezember 2022 im Muth wieder zum Tango aufspielen. Nach dem Konzert wird das Publikum auf die Bühne zur Milonga gebeten.

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http://www.muth.at

http://www.symphoniker.at Das nächste Konzert der Wiener Symphoniker im Kunsthistorischen findet am 8.12. 2022 unter dem Motto: „Die Macht der Liebe statt“.

Edward Albee: Die Ziege oder Wer ist Sylvia

Regie: Elmar Goerden, Bühnenbild: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner

Eine fein gesponnene Komödie, die so manchen Zuschauer verstört: Da liebt einer eine Ziege! Soll das ernst gemeint sein! – Nein, ganz und gar nicht, alles nur ein Spiel im Spiel, wenn man dem Hauptdarsteller nur genau zuhört und zusieht. Da feiert der „Stararchitekt“ Martin (Joseph Lorenz) seinen 60er! Er ist berühmt, lebt in einer Art kühlen, nichtssagenden Penthouse?- Wohnung. Alles clean, nur ein paar vielleicht kostbare Masken an den Wänden. Seine Ehe mit Stevie (Sandra Cervik) gilt als glücklich, nirgendwo nicht einmal der kleinste Seitensprung. Der noch immer pubertierende Sohn Billy (Julian Valerio Rehrl) hat alle Freiheiten und latscht frustriert mit Kopfhörern durch den Raum. Soweit alles gut – oder doch nicht? Martin spielt ein wenig den Alzheimer an, tut so, als ob er Namen und Ereignisse vergisst – ganz offensichtlich lotet er die Geduld seiner Ehefrau aus. Die reagiert, wie es sich für eine glückliche Ehefrau gehört: geduldig und gelassen. Also mit diesem Trick kann er sie nicht auf die Palme bringen und das Glückseis ein wenig aufbrechen. Daher treibt er das Spiel auf die Spitze und gesteht seinem Freund Ross (Michael Dangl) in einem nicht stattfindendem Interview (der Interviewte verweigert passende Antworten), dass er in eine Ziege verliebt sei. Schock, Schock, Ross flüchtet und teilt dieses unmögliche Geständnis – wie Martin es erwartet und lanciert hat – prompt der Ehefrau mit. Dann geht die erwartete Schlacht los. Vasen, Masken und Souvenirs fliegen durch den Raum, die brave Stevie zuckt aus, stößt den Urschrei des Entsetzens aus. Alles kippt – ganz so, wie es der Spielleiter Martin erwartet hat. Nur eines hat er in diesem teuflischen Spiel nicht berechnet: Dass er seine Frau und seinen Sohn ins Tiefste verletzt und dass er selbst unter dem Spiel fast dabei zugrunde geht.

Diese Feininterpretation lässt sich aus dem subtilen Spiel von Joseph Lorenz gut herauslesen. Er agiert mit Ironie, mit der spürbaren Distanz zum Geschehen und zu den Menschen um ihn herum. Selbst zu seiner Frau. Denn ihr gegenüber braucht es kühlen Kopf, er will das alteingefahrene Spiel der perfekten Ehe aufbrechen und neu aufstellen. Dabei aber übersieht er, dass er zu weit gegangen ist und dass er nicht nur die Menschen, die er liebt, gefährdet,, sondern auch sich selbst. Atemlos sieht man Lorenz zu, wie er verfällt, gleichsam auf der Bühne um Jahre altert, als er das Scheitern seines Spiels erkennt. Einfach große Schauspielkunst. Das Stück gelingt auch deshalb, weil auch die anderen Mitspieler intensiv in die Rolle einsteigen. Vor allem aber auch deshalb, weil Elmar Goerden sich von allen Regietheatermätzchen fern hält. Er vertraut auf die Kraft des Autors, der eine fiese Komödie perfekt durchexerziert, und auf die Kraft der Schauspieler.

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Leila Slimani: Schaut, wie wir tanzen

Aus dem Französischem von Amelie Thoma. Luchterhand Verlag

Im ersten Teil ihrer Romantrilogie „Das Land der anderen“ erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Großeltern in Romanform: Mathilde aus dem Elsass verliebt sich am Ende des 2. Weltkrieges in den marokkanischen Soldaten Amine. Die beiden heiraten und ziehen nach Marokko. In diesem Band ihrer Familiengeschichte fokussiert Slimani das Geschehen auf die beiden Protagonisten – die Frage nach der Akzeptanz des anderen, lässt die Traditionen und Gewohnheiten des jeweils anderen aufeinanderprallen und doch auch irgendwie verschmelzen..

In „Schaut, wie wir tanzen“ bleibt sich Slimani ihrem Stil der nüchternen Berichterstattung noch mehr treu als im ersten Teil. Sie streut oder verstreut das Geschehen auf mehrere Personen, jede davon ist ein Puzzle in der Entwicklung, die Marokko nach der Unabhängigkeit 1956 nimmt. Slimani steigt mit der Machtübernahme des König Hussein II. in das Geschehen ein. Sie aktiviert die bekannten Figuren Mathilde und Amine als Vertreter der reichen Grundbesitzer, die von der aktuellen Entwicklung Marokkos ab 1956 keine Ahnung haben (wollen). Amine wird immer reicher, aber er und auch Mathilde haben die Ausrichtung ihres Lebens aus den Augen verloren: Ihr Sohn Selim ist in der Hippieszene verkommen und landet irgendwo in Amerika. Die Tochter Aisha ist nach ihrem Medizinstudium in Straßburg in die Heimat zurückgekehrt. Sie heiratet den mächtigen Staatsbeamten Mehdi, einst ein vielversprechender Schriftsteller und Kämpfer für Freiheit. Beide führen in Rabat ein Leben nach westlichen Vorbildern: Sie arbeiten, geben Einladungen, gehen auf Partys und haben ein Sommerhaus am Meer.

Über allem steht als grausamer Wächter König Hussein II, Er hat alle demokratischen Bestrebungen ausgetilgt, überlebt zwei Attentate und lässt sich wie ein Gott verehren.

Unter all diesen Reichen, Pseudomächtigen und Möchtegernmitläufern leben die Hausmädchen, die Taglöhner und die Heerschar von Bettlern. Hussein will keine Intellektuellen, die schreiben nur unnötige Bücher und schüren den Aufstand. Sie werden öffentlich hingerichtet. Die Hinrichtungen werden im Fernsehen zur Hauptsendezeit übertragen. Das Volk soll Angst haben. Diese angstbesessene Zeit und diese verlorene Generation der 60er Jahre seziert Slimani in kurzen, harten Sätzen. Verschmuste Weichzeichnung war ja bekanntlich noch nie ihr Anliegen.

Es empfiehlt sich, beide Bände kurz nacheinander zu lesen. So bleibt man mit den Figuren auf verrautem Fuß.

Luchterhand. Der Literaturverlag. (penguinrandomhouse.de)

Wiener Konzerthaus: Andrè Schuen und Daniel Heide: Franz Schubert: Die schöne Müllerin

Zyklus Lied, 1. Konzert

Es geschieht noch: Das Wunder der Magie stellte sich an diesem Abend ein. Dem jungen Bariton aus Südtirol gelang es gemeinsam mit dem Pianisten Daniel Heide, den Liedzyklus „Die schöne Müllerin“ als existentielles Erleben zu gestalten. Ohne mit Tiefen und Lautstärke zu prunken, sang er von der Liebe und dem Tod.

Franz Schubert soll – so im Programmheft nachzulesen – den Gedichtband von Wilhelm Müller vom Schreibtisch eines Freundes, ohne ihn zu fragen, mitgenommen und in einer Nacht einen Großteil der Lieder komponiert haben. Die Faszination dieser schlichten Texte rührten ihn zu tiefgehenden Melodien.

Andrè Schuen schuf an diesem Abend ein Minidrama: Er begann als fröhlicher Bursche, der in die Welt hinausgeht, um sie zu erobern. Der Bach, sein Rauschen, führt ihn in das Haus der schönen Müllerin. Bis dahin klingt alles sehr biedermeierlich. Doch dann taucht Andrè Schuen in die Tiefen der menschlichen Existenz ein. In sich versunken, wird die Stimme immer inniger, nach Innen ausgerichtet. Er zieht das Publikum mit in die Leiden der Liebe, der Eifersucht und der Sehnsucht nach dem Tod. Daniel Heide folgt ihm auf dem Klavier auf dieser Reise als treuer Partner. Ein Abend, wie man ihn selten erleben kann!!! Langanhaltender Beifall, der nicht enden wollte. Selbst auf der Straße und im Bus hörte man mit Begeisterung von diesem Abend reden.

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Das Buch ist kein Pageturner im üblichen Sinn. Ganz einfach, weil jeder Satz, jeder Absatz zu kostbar ist, um rasch verschlungen zu werden. Alex Capus ist ein Meister der feinen Klinge, baut Leseminiaturen, die aneinandergereiht eine Perlenkette von preziosen Gliedern ergeben.

Es ist kein Roman, auch keine Romanbiografie. Ich würde es am ehesten eine poetische Biografie nennen. Capus erzählt die Geschichte von Susanna Faesch, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Basel geboren wurde. In der (damaligen) Kleinstadt herrscht bigotter Trübsinn, Lebensfreuden sind verpönt. Ihr Vater – ehemaliger Legionär, ihre Mutter eine geistig immer Abwesende. (Köstlich die Szene, in der die Mutter mit Mozartmusik die Moralpauken ihres Mannes ausblendet). Ein wenig Abwechslung bringt Karl Valentiny, ein ehemaliger Kriegskamerad des Vaters. Susanna ist ein eher unauffälliges Kind. Ihre Willenskraft jedoch erstaunlich groß. Als die Mutter eines Tages beschließt, dem nach New York abgereisten Karl Valentiny gemeinsam mit Susanne nachzureisen, nimmt das Kind das gleichmütig auf. Nach dem Vater und den 2 Brüdern sehnt sie sich sowieso nicht. Nun schildert Capus mit eindringlicher Präzision, ohne je dem Recherchewahn zu verfallen, die Entwicklung dieses erstaunlichen Mädchens, das mitten in der größten Industrierevolution (Elektrizität, Eisenbahn,, Dampfschiff) aufwächst Sie wird Porträtmalerin, heiratet und bekommt einen Sohn. Doch eines Tages wird ihr das bürgerliche Leben zu eintönig, sie packt ihren inzwischen 13-jährigen Sohn und bricht in den „Wilden Westen“ auf, um Buffalo Bill kennenzulernen und ihm das Bild, das sie von ihm gemalt hat, zu übergeben.

Der Reiz dieser Biografie liegt einerseits in der unaufgeregten Nüchternheit, mit der Capus den eigenwilligen Weg Susannas aufzeichnet, und andrerseits in der bis ins Detail feingesponnenen Sprache, die den Leser überall hin mitnimmt. Es ist ein Werk, das man nur ungern weglegt. Am Ende angekommen, hat man Lust, sofort wieder neu zu beginnen.

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Staatsoper Wien: Gustav Mahler, Von der Liebe Tod. Das klagende Lied, Kindertotenlieder

Dank des wunderbaren Dirigats von Lorenzo Viotti, der die Musik Mahlers feinsinnig und detailreich dirigierte, war dieser unselige Abend auszuhalten. Man musste nur die Augen schließen, dann blieb man von diesem „spektakulären Bühnenbild“ (so Direktor Roscic) von Calixto Bieito verschont. Plastikschläuche und Körperverrenkungen – was hatte sich dieser Regisseur dabei gedacht? Manche Sequenzen glichen einer Schülerauffführung. Dass das Publikum angetan war, kann ich nicht behaupten. Rund um mich herum nur Kopfschütteln. Diese Aufführung bestätigt wieder einmal mehr, wie Regietheater Oper kaputt macht – man versteht, warum Philippe Jordan keine Lust mehr hat, an der Wiener Oper zu dirigieren.

Eigentlich müssten der Direktor und der Bühnenbildner am Ende der Aufführung dem Publikum das Eintrittsgeld zurückgeben. A propos Geld: Es hat sich noch nicht überall herumgesprochen, dass man an der Tageskasse bis 18h Karten für fast alle Vorstellungen um 49 Euro bekommt. Und dass vor der Tür einer steht, der ein ganzes Paket an Karten für diverse Vorstellungen – auch für Rigoletto!! – um 49 € anbietet. Die Dummen sind die Vollzahler!!!

Odeon-Theater: Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek. Welturaufführung

Bearbeitung der Novelle und Inszenierung: Jacqueline Kornmüller. Musik: David Müller und Klemens Lendl, bekannt als Die Strottern. Gitarrist und Erzähler: Peter Rom.

Foto: Der Schafsmann (Peter Wolf) und der Junge (Nils Arztmann)

Ein Zauber liegt über der Bühne: Große Bücher stehen in diagonalen Linien quer durch den Raum.. Ruhig geht die Aufseherin durch, prüft, ob sie alle ordentlich ausgerichtet sind. Denn Ordnung ist in einer Bibliothek oberstes Gebot. Was dann geschieht, ließe sich in drei banalen Sätzen erzählen: Ein Jugendlicher betritt die Bibliothek, um sich Bücher über das Steuersystem im Osmanischen Reich auszuborgen. Der Bibiothekar führt ihn in einen unterirdischen Keller, wo er ihn einsperrt. Mit Hilfe eines wundersamen Vogels kann er sich befreien. Das wäre in dürren Worten der Inhalt der Geschichte.

Jacqueline Kornmüller faltet aus dieser Erzählung alles Wunderbare und Märchenhafte heraus und bezaubert mit Musik und schlichter Dialogführung das Publikum. Jede Bewegung und jedes Wort wird zum Märchen, zum Wunderbaren hin choreografiert. Schüchtern betritt der Junge(Nils Arztmann)die Bibliothek. Er ist kein Draufgänger, kein Revoluzzer. Sondern wohlerzogen. Seine Ängste kaum verbergend fragt er den strengen Bibliothekar (Christian Nickel) nach Büchern zum Thema „Steuerhinterziehung im Osmanischen Reich – in der Schnelligkeit ist ihm kein anderes Thema eingefallen. Mit drei Wälzern ausgerüstet muss er eine steile Treppe hinunter in ein Kellerverlies steigen. Er will nicht, wehrt sich. Die Situation ist kafkaesk: Der strenge Bibliothekar kettet ihn an ein Lager. Warum, was hat er verbrochen? Er weiß es nicht, die Angst wird immer größer. Als ein geheimnisvoller Schafsmann (Peter Wolf) das Verlies betritt, steigern sich die Ängste zu Todesangst. Wenn er nicht gehorcht – so der Schafsmann – , wird ihm der Bibliothekar den Kopf abschneiden und das Gehirn untersuchen. All das wird teils vom Erzähler, teils vom Jungen berichtet, von einer sanften Musik untermalt und der grausamen Prophezeihung die Schärfe genommen – es wirkt, als wäre alles nur ein Traum. Die Bücher über das Osmanische Reich entführen den Jungen in die orientalische Märchenwelt, eine junge Schönheit (Manaho Shimokawa) bringt ihm Essen. Sie ist stumm, doch ihre Gesten sind zärtlich und tröstlich. Der Bibliothekar möchte den Jungen im Keller behalten und erklärt ihm, hier drinnen sei die reale Welt, alles außerhalb seien nur Schatten. – Ein umgekehrtes Höhlengleichnis! Doch der Junge will nicht bleiben – er sorgt sich um seine Mutter, die vor Kummer sterben könnte, und um seinen geliebten Vogel. Schafsmann, stumme Schönheit und er fliehen gemeinsam. Ein geheimnisvoller Vogel hilft und tötet den Bibliothekar. Der Schluss bringt die nüchterne, reale Welt zurück: Die Mutter fragt nicht, wo er gewesen, es scheint keine Minute vergangen zu sein, seit er das Haus verlassen hat. Nur sein geliebter Vogel ist tot.

Das Publikum erlag eineinhalb Stunden der märchenhaften Verführung, die dieser Aufführung innewohnt, und dankte mit frenetischem Applaus.

Noch bis zum 5. Oktober 2022. 2023 Wiederaufnahme: 19.-21., 28.29. Jänner, 2. und 3. Februar 2023

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Volksoper Wien, Carl Millöcker/Theo Mackeben: Die Dubarry

Regie: Jan Philipp Gloger. Musikalische Leitung: Kai Tietje

Foto: Martin Enenkel als Lebell, Harald Schmidt als König Ludwig und Annette Dasch als Dubarry.

Es ist ein kluger Schachzug von Lotte de Beer , mit dieser Operette die Saison und die Ära ihrer Direktion zu eröffnen. Aufgewertet durch aktuelle Gags, optisch witzig durch passende Bühnenbilder (Christof Hetzer) und pfiffige Kostüme (Sibylle Wallum) hat dieser Abend durchaus Potential zum Renner. Gloger hat es an Anspielungen und szenischen Gags nicht fehlen lassen, wenn auch dadurch der Abend sich ein wenig in die Länge zieht. Manche Einfälle sind ziemlich banal – etwa die „Unterrichtsstunde“, in der die Dubarry als Preussin für ihren Aufttritt vor dem Kaiser Franz Josef vorbereitet werden soll. Da werden alle Kalauer über die sprachliche Kluft zwischen Preussen und Österreich aufgeführt. Man kennt sie alle zur Genüge- dem Publikum aber gefällts.

Gloger arbeitet gekonnt mit Zeitensprüngen – einmal sind wir im Berlin der 20er Jahre, dann auf dem französischen Hof, dann wieder in einem Wiener Ballsalon, und im sehr witzigen Diskurs zwischen Dubarry und Ludwig XV. gar in der Gegenwart. Da dürfen sich zwei Theatertiger an witzigen, oft spontanen Einfällen übertreffen. Für den Showmaster Harold Schmidt ist König Ludwig eine Glanzrolle, die er sichtlich genießt. Annette Dasch als Dubarry ist ihm in dieser Szene eine ebenbürtige Partnerin. Stimmlich geraten ihr hin und wieder die Spitzentöne zu hart. Aber vielleicht ist das gewollt – quasi als Rollenbruch.

Das Ensemble singt und spielt insgesamt mit großer Freude und Einsatz. René Lavallery als Kunstmaler und Liebhaber der Dubarry hatte verdienten Szenenapplaus. Besonders reizend spielte und sang Juliette Khalil die Rolle der Verkauferin Margot.

Alles in allem ein amüsanter Abend, der auch manchmal mit drastischen Szenen – etwa die versuchte Vergewaltigung der Dubarry oder die bewusst abstoßende Szene der betrunkenen Männergesellschaft – nicht Operette pur bringt. Ein totaler Schock der Schluss – gekonnt gemacht. Aber er sei hier nicht verraten. Manche Zuschauerinnen waren – wie man in der Pause und nachher vernahm – regelrecht schockiert und meinten, das sei keine Operette. Irgendwie wahr, aber gerade deshalb interessant.

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Ein Bericht von der Generalprobe am 2. September 2022

Sara Mesa: Eine Liebe. Wagenbachverlag

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

Eine Liebe soll das sein? – Eher eine Obsession, die in Selbstauflösung endet. Sara Mesa schildert in einer kristallklaren Sprache gnadenlos die Zerstörung einer Persönlichkeit. Die Ursachen sind nicht ganz einfach auszuloten. Nat, so die Hauptfigur, hat sich irgendwie freiwillig in ein Dorf irgendwo in Spanien katapultiert. Dort ist das pure Nichts: ein paar Häuser und sehr neugierige, subtil zudringliche Nachbarn. Auch die nächste Kleinstadt ist trostlos.

ZU Beginn des Romans denkt man an Juli Zehs Romane über die Stadtflüchter („Über Menschen“ und „Unterleuten“): Oje, schon wieder ein Roman über die Enttäuschungen, die Städter in trostlosen Dörfern erleben. Doch dann gewinnt Nats Geschichte an Fahrt: Die Menschen rund um sie werden ihr unheimlich, sie kann nicht „warm werden“, will nicht an ihren Gartengrillpartys teilnehmen. Die Männer, so ihr Eindruck, betrachten sie lüstern, der Vermieter ist ein echter Ungustl. Das Haus eine Katastrophe. Doch sie bleibt – trotz aller Unannehmlichkeiten. Als sich „der Deutsche“ – so wird er von den Bewohnern genannt – ihr einen seltsamen Vorschlag macht, ist sie schockiert: Er reapariert das Dach ihres Hauses, dafür möge sie ihn „einmal kurz reinlassen“, wie er den Sexualakt umschreibt. Sie geht auf den Vorschlag zunächst aus kühlem Kalkül ein. Aus dem Kalkül wird Gier nach Sex. Sie kann von ihm nicht mehr lassen, auch nicht, als er diese seltsame Beziehung beendet. Und die Dorfbewohner wissen natürlich davon und schneiden sie. Als ihr Hund dann noch das Nachbarmädchen ins Gesicht beißt, wird sie von allen gemieden, ja sogar indirekt bedroht. Noch immer fragt man sich, warum sie bleibt: Der Selbstzerstörungstrieb hat sie in diesen Unort getrieben. Der Leser bekommt immer mehr den Eindruck, alles was um sie und mit ihr passiert, treibt sie in ein Nichts, das sie gewünscht und gesucht hat. Das offene Ende ist grandios, passend zu dieser grandiosen Analyse einer Frau, die sich selbst aufgibt.

Mit feiner Beobachtungsgabe schildert Mesa die Reaktion der Dorfbewohner. Wie mit einem Skalpell legt sie die Intrigen, die Mißgunst und den Neid bloß. Nat soll sich entweder fügen, einfügen oder verschwinden. Sie verschwindet auf ihre Weise.

Packend, nachdenklich machend. Ein Buch, das provoziert! Gut so!

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Joseph Rebell: Im Licht des Südens

Ausstellung im Unterem Belvedere

Foto: Sonnenuntergang über den Campi Flegrei gegen die Inseln Procida und Ischia. 1819. (©Johannes Stoll, Belvedere, Wien)

Neben “ Viva Venezia! “ ist dies nun die zweite Ausstellung im Belvedere, die Bilder aus dem Sehnsuchtsland Italien zeigt. Joseph Rebell ist selbst Kunstinteressierten kaum bekannt. Daher ist das Verdienst des Museums um so größer, diesen Maler des Lichts und der Sehnsucht nach den inneren Bildern Italiens, die so mancher Betrachter in sich trägt, zu zeigen. 1787 in Wien geboren studierte Rebell an der Wiener Akademie der bildenden Künste. 1810 zog es ihn nach Italien, wo er zunächst in Oberitalien Bilder vom Comosee und Luganosee malte. 1813-1816 lebte er in Neapel, genoss die Gunst der kunstsinnigen Königin Caroline Murat (Schwester Napoleons) und malte für sie und die kaufkräftige Schicht Genrebilder aus der Umgebung von Neapel. Auf Anfrage konnte er jedes vom Käufer gewünschte Motiv in gewünschter Größe malen. Er verdiente sehr gut, da er ein exzellenter Selfmanager war. Als Caroline Murat Neapel verlassen musste, zog Rebell nach Rom und lebte und arbeitete in der Villa Malta, wo sich viele internationale Künstler trafen. Dort wurde auch Kaiser Franz I. auf ihn aufmerksam. Begeistert von dessen Malerei ernannte er Jospeh Rebell zum Direktor der Kaiserlichen Gemäldegalerie im Oberen Belvedere, wo er bis zu seinem Tod 1824 sehr effektiv und erfolgreich tätig war.

Joesph Rebells Gemälde bezaubern durch das Licht, das er im Hintergrund der Landschaft aufglühen lässt. Seine frühen Werke zeigen schon seine ganze Kraft: In arkadischen, lichtdurchfluteten Wäldern wandeln mythische Personen eine erträumte Welt der Sorglosigkeit. Später wird aus Arkadien das konkrete Italien mit wieder erkennbaren Motiven, die sich leicht verkaufen ließen. Man steht gefesselt vor seinen Bildern, wie dem Ausbruch des Vesuvs, Bildern vom sturmdurchtobten Meer oder Bildern von verträumten Ufergestaden. Vielleicht seufzt so mancher Betrachter, der die Gegend heute kennt: Viel ist von der einstigen Romantik heute nicht mehr zu entdecken. Tourismus und Bauwut haben viel zerstört. Heute sind die Werke Rebells „Trost- und Erinnerungsbilder“.

Die Ausstellung ist noch bis zum 13. November 2022 zu sehen.

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Kultursommer Semmering: Joseph Lorenz liest Stefan Zweig, Amokläufer

Unverwechselbar: Joseph Lorenz

Unverwechselba: Stefan Zweig

Stefan Zweigs Sprache ist gesprochene Musik – Josph Lorenz bringt diese Musik der Worte zum Klingen. Sie sind Partner, es könnte keinen besseren Interpreten für Stefan Zweigs große Sprachkunst geben.

Ganz ohne Regiefirlefanz lässt Lorenz das Psychogramm eines Besessenen entstehen. Jedes Wort hat seinen Wert, glänzt auf. Etwa in der Passage, in der Zweig den Nachthimmel über dem Meer beschreibt. Man spürt, erlebt das Licht hinter dem Sternen. Das Strahlen in der Dunkelheit.

Wie es die Novellenform verlangt, bettet Zweig diese rasante Erzählung in einen Rahmen. Gleichsam, um von dem Ungeheuerlichen, der Wucht der Tragik ein wenig Abstand zu gewinnen: Der Erzähler begegnet auf einer Schiffspassage von Kalkutta nach Neapel einem „Nachtpassagier“, der die Menge meidet. Doch dem Erzähler eröffnet er seine Tragik – den fatalen Fehler, eine Frau allzusehr begehrt zu haben und darüber seine ärztliche Pflicht zu helfen verabsäumt zu haben. Er fühlt sich für ihren Tod verantwortlich, ist es auch. Bevor sie stirbt, nimmt sie ihm das Versprechen ab, die wahre Ursache ihres Tode – eine verpfuschte Abtreibung – ihrem Ehemann und der Welt niemals preiszugeben. Dieses Versprechen hält er und opfert dafür sein Leben.

Ich habe schon mehrmals diese Lesung erleben dürfen – erleben ist das richtige Wort. Auch beim fünften Mal zogen die Wucht der Erzählung und die Kraft des Interpreten mich in den Bann. Das Herz klopfte heftig und der Puls stieg. Immer, wenn die Lesung endet, brauche ich eine WEile, um wieder „herunterzukommen“. Pardon, dass ich meine persönlichen Gefühle so offen hier beschreibe. Mich wundert es jedesmal wieder, wie Joseph Lorenz eine Welt, einen Charakter – besser gesagt, alle Charaktere der Erzählung – lebendig werden lässt. Dazu braucht er nicht Kostüm, Maske oder andere Requisiten, die nur stören würden. So mancher Regisseur könnte nach so einer „Lesung“ seine selbstverliebten Regiekonzepte überdenken und vielleicht sogar verwerfen. Aber das geschieht nicht – ganz einfach, weil sich kein Regisseur dafür Zeit nähme.

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Kultursommer Semmering: Joseph Lorenz und Daniel Keberle: Doppelconférence

Regenschleier und Nebelschwaden zogen über die Baumspitzen. Die Hitze war vorbei. Der Sommer vielleicht noch nicht – jedenfalls nicht im Kulturpavillon vor dem Hotel Panhans. Da sorgten Joseph Lorenz und Daniel Keberle für einen heiter-unmelancholischen Vormittag. Beide sind ein gut eingespieltes Paar – man sah sie unter anderem als Anatol (Lorenz) und Max(Keberle).

Diesmal also leichte, bekannte Kost. Der Titel „Doppelconférence“ erinnert ganz bewusst an Waldbrunn und Farkas. Wie Florian Krumpöck in seiner kurzen Begrüßungsrede betonte, möchte der „Kultursommer Semmering“ den jüdischen Künstlern, die einst den Semmering oft und gerne besuchten (Farkas hatte in der Nähe von Reichenau eine Villa) eine Erinnerungsplattform bieten.

Zunächst erklärten Lorenz und Keberle launig den Begriff „Doppelconférence“: Das ist ein „Dialog zwischen einem G´scheiten und einem Blöden – am Ende ist der Blöde nicht gescheiter, der G´scheite scheinbar umso blöder“ (Zitat aus dem Programmzettel). Danach wurden die Rollen verteilt: Lorenz meldete sich sofort und freiwillig für die Rolle des Blöden – solche Rollen spielt er mit Begeisterung und sehr überzeugend (etwa in „Oh, du mein Österreich). Keberle als der Obergscheite (Farkasrolle) warf großsprecherisch mit Fremdwörtern um sich, Lorenz vermengte sie zu neuen Sprachungeburten. Bekannte Szenen folgten im raschen Tempo – man amüsierte sich über den Ober im Kaffeehaus, der für alle Mängel der Speisen eine ERklärung hat und sie natürlich auf die Rechnung setzt- des ham scho zwei Gäste vor Ihnen net essen wollen-. Solche und ähnliche Antworten auf Beschwerden kennen wir ja alle.

Brillant war auch der Beitrag: Was ist ein Statistiker? Oder der Dialog zweier Schwimmlehrer an der Donau. Gegen Schluss durfte natürlich nicht der Sketch fehlen: Kauf deiner Schwiegermutter Levkojen zum Geburtstag. Mit Hilfe der Mnemotechnik wurden daraus „Löwenzähne“. – All diese Witze sind bekannt und wirkten dennoch frisch. Man genoss und amüsierte sich ganz besonders, weil Lorenz, sonst eher als Interpret der „hohen Literatur“ bekannt, sich lustvoll in die Untiefen des „schiefen, grindigen“ Humors stürzte. Keberle war der kongeniale Partner, mehr als ein Stichwortbringer. Diesmal gab es auch Zugaben: Keberle las einen launig-lehrhaften Text von Weigel, Lorenz blätterte lange, dann begann er fast feierlich: Ernst Jandl – ein Gedicht: „So!“ – stand auf und verbeugte sich. Ein genialer Abschluss eines heiteren Vormittags.

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Mein Festivalsommer am Mattsee und Salzburg

VORHANG AUF ZUM FEST AM SEE UND IN SALZBURG

Nirgendwo kann ich besser die Festwochen in Salzburg verbringen als am Mattsee, im Schlosshotel Iglhauser. Tagsüber im Garten und am Steg faulenzen, schwimmen, ein wenig wandern, aber nicht zu viel – denn das Wasser ist zu verlockend.

Abends dann hinein nach Salzburg (24km bis Stadtmitte). Höhepunkt meiner Festspielabende war der Liederabend mit Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch: „Lieder von Liebe und Sehnsucht“ – Jonas Kaufmann mit all seinen Piani, Pianissimi und verträumter Stimme drang in die Seele wohl aller Zuhörer. Berühmte Lieder wie „Nur wer die Sehnsucht kennt“ (Tschaikowski), „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ (Mahler) waren voller Schwermut. Lebensfroh die Vertonung von Franz Liszt „Die drei Zigeuner“( Lenau). Unter standing ovations und begeistertem Applaus bekamen wir 7!!! (in Worten „SIEBEN“) Zugaben, zuletzt das berühmte Abendlied von Johannes Brahms „Guten Abend, gute Nacht“ von Jonas Kaufmann geschenkt.

Ein weiterer Höhepunkt war das Konzert der Wiener Philharmoniker unter dem Dirigat von Riccardo Muti. Schmerzvolle Themen! Tschaikowskis Pathétique hörte man wohl noch nie so subtil und ganz ohne großes Getöse! Thematisch dazupassend folgte die Symphonische Dichtung „Von der Wiege bis zum Grabe“ von Franz Liszt. Den Abschluss bildete die gewaltige Szene „Prologo in cielo“ aus der Oper „Mefistofele“ von Arrigo Boito. Endlich durften wir wieder die mächtige Stimme des Bassbaritons Ildar Abdrazakov hören! Er wurde ja an der Wiener Staatsoper wenige Tage vor seinem Auftritt in „Boris Godunov“ und in „Un Turco in Italia“ kommentarlos vom Programm genommen. Mit gutmütiger Ironie begegnete er als Mefistofele dem göttlichen Meister und schlug ihm die berühmte Wette vor.

Für die dreiteilige Oper „Il Trittico“ von Puccini machten Medien und der Dirigent himself lautstark Werbung. Doch irgendwie blieb das Werk hinter den Erwartungen zurück. Hatte man schon vorab zu viele Lorbeeren gestreut? Zweifellos wurde gut gesungen – besonders beeindruckend Asmik Gregorian in drei verschiedenen Rollen – und Welser-Möst holte alle Feinheiten dieser WErke gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern heraus. Aber diese drei Stücke sind halt nicht so Ohrwürmer wie „Butterfly“ oder „Bohème“.

In Leos Janaceks Oper „Kata Kabanova“ sang und spielte mit großer Ausdruckskraft Corinne Winter die Hauptrolle. Sie überzeugte voll und ganz. Ebenso das gesamte Ensemble und die Wiener Philharmoniker unter dem sicheren Dirigat von Jakub Hrusa..

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Wolkenturm/Grafenegg: Beethoven: Fidelio (Konzertant, Textfassung Walter Jens: Roccos Erzählung, Bearbeitung: Brigitte Karner)

Gstaad Festival Orchestra unter der Leitung von Jaap van Zweden

Es war ein Abend, wie man ihn sich nicht schöner vorstellen konnte: Die Sonne ging in rosaroten Wolken unter und ließ ihr letztes Licht über das Schloss, den Park und den Wolkenturm fallen. Sanfte Wärme bis spät in die Nacht. Decken und Jacken blieben unausgepackt.

„Fidelio“ als konzertante Aufführung ist ein seltenes Erlebnis. Manchmal auch ein seltsames. Wenn etwa Leonore (Sinéad Campell-Wallace) im eleganten roten Abendkleid stimmgewaltig ihr Leid und ihre Sehnsucht nach Florestan besingt („Komm Hoffnung..“) Da schließt man am besten die Augen und versetzt sich selbständig in einen düsteren Raum. Gegen Ende des ersten Aktes macht es durchaus Sinn, wenn der Erzähler/ Rocco das Leid der Gefangenen schildert und der Chor den Gesang „O welche Lust, in freier Luft“ anstimmt. Das hilft dem Zuhörer, in die Oper einzusteigen und sie zu erleben. Trotz Abendkleidung der Protagonisten.

Nach der Pause stieg die Spannung – denn jetzt wird Jonas Kaufmann singen. Er muss „aus dem Stand“ heraus gleich voll einsteigen – glaubt man. Doch er beginnt den berühmten Schrei „Gott!“ – sonst ein Schrei, der durch Mark und Bein geht – mit einem Piano und singt auch weiterhin nicht mit „voller Stimme“. Fast hatte man den Eindruck, dass er sich ein wenig müht. In dem Terzett mit Rocco (Andreas Bauer Kanabas), Florestan und Leonore übertönt die stimmgewaltige Sinéad Campell- Wallace die beiden Männer. Kaufmann hält sich zurück?? Und so bleibt es bis zum Schluss. Die Oper müsste „Leonore“ heißen, weil Campell-Wallace die Rolle derartig stimmgewaltig und alle anderen Stimmen verdrängend verkörpert. Ihr galt auch der meiste Applaus. Zum Ende ehrt der Rocco – Simonischek – den Mut der Frau an sich. Er löst Leonore aus der Einmaligkeit ihres Schicksals und macht sie zur über die Oper hinausreichende Ikone der Frau, die durch Mit-Leiden und entschlossenes Handeln Krieg und Hass besiegt.

Falk Struckmann war ein überzeugender Pizarro. Die Gewalt seiner Stimme ließ die Figur griffig werden. Andreas Bauer-Canabas ein Rocco, genau zwischen Mut und Unterwürfigkeit. Christina Landshamer eine sympathische Marzelline, Matthias Winckhler als Don Fernando ein ruhiger Bote der Gerechtigkeit.

Jaap van Zweeden leitete das Gstaad Festival Orchestra mit feinem Gespür. Der Tschechische Philharmonische Chor Brünn war ein exzellenter Partner der Sänger.

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Festspiele Reichenau: „Frühlingserwachen“ und „Die Möwe“

Franz Wedekind: Frühlingserwachen. Regie Christian Berkel

Unter der kundigen Hand des Regisseurs können junge Schauspieler aus dem Reinhardt-Seminar ihre ersten Erfahrungen mit Theater machen. Und gleich mit einem Text, der ihnen alles abverlangt. Aber alle meistern die sehr expressionistische Sprache, die kurzen Szenen wirklich sehr gut. Man merkt, sie wissen, es geht nicht nur um die Jugend von 1891 (Entstehungszeit), sondern eben auch um sie. Zwar sind die Probleme der Aufklärung heute nicht wirklich mehr Probleme, aber das Aufbegehren gegen die Elterngemeration, die Frage nach der Zukunft und nach den Werten -all das hat sich nicht geändert.

Viel Applaus für alle Schauspieler!

Anton Tschechow: Die Möwe

Regie: Torsten Fischer, Bühne: Herbert Schäfer

Warum muss man die Bühne so trist gestalten? Noch dazu mit Nebelschwaden! Das gleicht einer Tautologie auf Theaterebene: Ein tristes Stück mit trister Bühne. das ist wie ein weißer Schimmel. Im ersten Teil ist die Langeweile auf der Bühne – und im Publikum – groß. Sandra Cervik als Irina überzeugt nicht, sie weiß nicht so recht, was sie mit ihren Armen und Haaren machen soll. Nils Artmann als ihr Sohn Konstantin übertreibt und wirkt irgendwie angestrengt.

Im 2. Teil nimmt das Stück Fahrt auf. Die Charaktere treten aus den Nebelschwaden heraus und das Publikum erwacht. Aber ein Tschechow, der in Erinnerung bleiben wird, ist diese Auffürung nicht.

Freundlicher Applaus.

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Siehe auch meine Kritik zu „Teufels General“

Wolkenturm- Grafenegg: Philipp Hochmair: Jedermann reloaded mit seiner Band „Die Elektrohand Gottes“

Wer am Vorabend Hochmairs Interpretation der Schillder Balladen erlebt hat (s. den Beitrag vom 29. Juli), der hat ein heftiges déjà vu -Erlebnis: Der Wagen mit dem Leitschutzsystem, die Kreuze -diesmal sehr passend – und die roten Grablichter erinnern daran. Auf dem Wagen werden statt der Balladentitel die Personen angezeigt, die gerade von Hochmair in einer fulminanten Doppelkonference gespielt werden. Und das ist durchaus reizvoll, oft sogar recht humorvoll, bis gewollt respektlos. Hochmair spielt den reichen Protz im Tarnanzug, mit Zigarre und Sonnenbrille, offenbar seine Lieblingskostümierung. Geld, Geld ist ihm das Wichtigste: „Durch Geld wird der Mensch der Gottheit gleich!“ -In diesen Passagen wirkt das Spektakel sehr heutig! Er speist die diversen Bittsteller mit einem Schilling ab, hört sich das Gejammer seiner alten Mutter ungeduldig an. Ungeduldig, weil er seinen Lustgarten für die Buhlschaft endlich fertig stellen will. Anders als in früheren Aufführungen gibt es diesmal keine leibhaftige Buhlschaft, sondern er selbst spielt sie. Als lustvolle Lebensgenießerin, die mit ihm im Lustgarten heiße Küsse tauscht – eine dieser komischen Szenen! Sie zögert keine Sekunde, die Begleitung ins Jenseits dezidiert abzulehnen. (Ganz anders in Salzburg, wo die jetzige Buhlschaft im Interview von „Gleichstellung“ und „Liebe“ zwischen Jedermann und ihr schwadroniert)

Im zweiten Teil des Stückes hat auch Hochmair die liebe Not, die Wandlung des Jedermann vom geilen Geck zum gläubigen Menschen glaubhaft über die Bühne zu bringen. Aber das liegt ganz an der Problematik des Stückes selbst. Einer, der so das Leben genießt und keine Reue oder Mitleid kennt, wird in der Stunde des Todes „gläubig“?. Wenn Hochmair noch so viel Kreuze in die Höhe hält, es ist letztendlich die Todesangst und nicht der Glaube, der ihn ausrufen läst: „Ich glaube!“. Der Schluss ist die Crux des Stückes, weil es Hofmannsthal nicht wirklich gelungen ist, die Umkehr des Reichen in einen Büßer glaubhaft auf die Bühne zu bringen. An diesen letzten Szenen sind schon einige Regisseure in Salzburg gescheitert. Hochmair ist klug, und macht das relativ schlicht, ohne großes Pathos

Ein tatkräftiger Mitspieler ist die Musik der Gruppe – sie treibt den Reichen zu orgiastischen Rocktänzen an (ähnlich wie bei Schillers Balladen), sie führt ihn empathisch durch seine Ängste und wirkt ungewöhnlich leise in den Schlussszenen.

Begeisterter Applaus und standing ovation!!

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Im Wolkenturm von Grafenegg

Mit seiner Band „Die Elektrohand Gottes“ – Tobias Herzz-Hallbauer, Jörg Schittkowaski, Rajko Gohlke, Hanns Clasen.

Der Auftritt glich einem Orgienfest. Mit ekstatischen Schrei: „Schiller, wo bist du? Komm zu uns nach Grafenegg“ – beschwor der Schamane Hochmair den Geist des Dichters herauf. Hochmair als Straßenarbeiter mit Helm, roter Hose und blinkendem Rettungslaiberl, in der Hand Hammer und Rohr. geht schlagend und rufend über die Bühne, die einer ausrangierten Asfinagstation glich: ein alter Stellwagen, auf dem die Autos geleitet und später die Titel der Balladen angezeigt werden. Kreuze, groß, klein, verstaubte Marienstatuen weisen auf alles Möglich hin, nur nicht auf Schiller und seine Zeit. Zum Auftakt wird fest gehämmert, nach Schiller gebrüllt und Nebel in die Luft geschossen. Dann als Versuchsballon „Der Ring des Polykrates“, weils so gut und verwirrend war, gleich nochmals. Jetzt aber mit Vollgas.Ja, wir sollen kapieren: Schiller ist ein Widerständler, misstraut der Macht und den Mächtigen. Auch der Pseudomacht der Frauen und dem blöden Machtgehabe des Königs. Der Jüngling – das Wort gibt es noch und es wirkt ganz heutig!! – vollbringt die sinnlose Mutprobe, wirft jedoch den Handschuh der Dame vor die Füße – „den Dank, Dame, begher ich nicht!“ Fragwürdig ist die Dame – sind die Frauen, die Unmögliches verlangen. („Der Handschuh“)

Ab der Ballade über den Erlkönig steigert sich das Fest, wärmt sich auf zur Orgie. „Now comes the Taucher“ – und wird zum Mysterienspiel über die Ohnmacht des Menschen, der wie Orpheus in den Untergrund steigt, aber aus den Untiefen nicht mehr zurückkehrt. Der Schamane lässt das Laiberl fallen, rappt bis zur Bewußtlosigkeit, kippt in den Untergrund. Als spannendes Drama über Feundschaft tanzt und singt, brüllt und flüstert der Schamane „Die Bürgschaft“ – wird er den Freund noch retten können? Er kanns – und selbst der böse Tyrann hat Tränen in den Augen. Noch eine Steigerung ist möglich: „Wollt ihr das längste Gedicht der Welt hören – die Glocke?“ Das Publikum will, und steigt in den Weltenbau und in die Gesetze, die die Welt zusammenhalten, ein. Am Ende weiß der Schamane: „Schiller lebt! Schiller, du bist da!“ Er spürte ihn.

Bleibt zu hoffen, dass alle, wirklich alle die Reise des Schamenen zu dem Geist Schillers mitgemacht haben. Der Applaus galt der gelungenen Performance und dem immensen Einsatz Hochmairs. Und Schiller?

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Grafenegg: „Insieme“ im Wolkenturm

Bis auf das letzte Wiesenfleckerl war der Wolkenturm ausverkauft. Die Gruppe „Insieme“ („gemeinsam“) – auf italienische Hits spezialisiert – konnte auf ihre Fans zählen. „Insieme“ – das sind Monika Ballwein, Christian Deix, Erik Arnò, René Velazquez – mischten die Stimmung auf, ließen das Publikum bei „felicità“ von Romina Power mitklatschen und mitsingen. Mit „Come è bello fare l`amore“, „Buona sera, Signorina“ wurde die Stimmung immer lockerer. Blieb aber unter den Erwartungen einer heißen Nacht. Nur zögerlich wurde hin und wieder ein Lichtlein gezündet. Manchmal wurde mitgerockt – eher mitgerockerlt. Je nach Alter. Dass der Song von Andrea Bocelli und Hélène Segara nicht so ganz gelang, machte nichts aus – es war romantisch. Bei „volare“ konnte man wieder gewaltig mitsingen. Nach der Pause wurden die Handylichter häufiger, die Stimmung wärmer trotz hereinbrechender Nachtkälte. „Bella ciao“ und viele andere Hits mit Zugaben rissen alle im Publikum zu begeistertem Applaus mit.

Eine Veranstaltung der Agentur „cayenne“ http://www.cayenne.at

Kultursommer Semmering: Thomas Bernhard, Der Ignorant und der Wahnsinnige.

Aufführungsort: Kulturpavillon vor dem Hotel Panhans (Titelfoto ©Hotel Panhans)

Ein Ende des Kultursommers Semmering? – Nicht für Florian Krumpöck.sss Als ihm der neue Besitzer des Südbahnhotels den Vertrag kündigte, fand er im Panhans Hotel rasch und unbürokratisch eine neue Bleibe. Und startete das volle Programm wie geplant mit den bekannten Schauspielern, wie Joseph Lorenz, Senta Berger, Maria Bill und vielen, vielen anderen, die schon seit Jahren den literarischen und musikalischen Anziehungspunkt für Kulturliebhaber bilden.

Dörte Lyssewski, Joseph Lorenz, Wolfgang Hübsch und Jeanette Nagy waren das großartige Quartett dieser szenischen Lesung.

Besser hat man dieses Stück wahrscheinlich nie gesehen! Dörte Lyssewsky war eine urkomische Sopranistin, die sich mit aller Wucht in die Verzweiflungskomik dieser Rolle warf. Der Routine überdrüssig, kündigt sie einen Vertrag nach dem anderen. Und triumphiert, bis sie mit der Nase in den Nobelteller der „3 Husaren“ fällt. Komik und Tragik auf unvergleichlicher Weise verbunden. Wolfgang Hübsch war auf einen blinden und großteils stumm-brummenden Vater reduziert, was dem Stück gut tat. Im Mittelpunkt des Geschehens brillierte Joseph Lorenz als wahnwitziger Arzt, ins Sezieren, in Grausamkeiten, in die Kälte der Wissenschaft und in sich selbst verliebt. Ein wenig auch in die Sopranistin, oder vielleicht auch ein bisserl mehr als wenig. Sein Dirigat und mimischer Gesang zur Musik Mozarts gehörte zu diesen Szenen, die vielleicht ins Buch der „Bernhardschen Theatergeschichte“ eingehen werden. Noch nie sah ich den Arzt so vielschichtig schillernd und urkomisch, Es war Metatheater, nichts ist echt, alles ist künstlich, gerade deshalb hohe Kunst.Jeannette Nagy in der Doppelrolle als FrauVargo und Fräulein Winters – eine stumme Realität.

Das Publikum dankte mit frenetischem Applaus und Bravos!!!

Kartenbestellung und Infos:

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Festspiele Reichenau: Carl Zuckmayer, Des Teufels General.

Regie und Textfassung: Hermann Beil, Bühne: Hans Kudlich, Kostüm: Erika Navas

Gleich vorneweg: Es ist das Beste, was man seit langem auf dem Theater gesehen hat! Ein großartiges Stück von der Meisterhand Zuckmayers, eine unprätentiöse Regie, die sich ganz dem Text unterordnet und vor allem: Ein Ensemble, das alle Wünsche erfüllt. Keine Rolle, die nicht ideal besetzt wäre. Dazu kommt noch die bedrückende Aktualität: Krieg ist Mord, egal ob Angriffs- oder Verteidigungskrieg!

Politiker sollten sich dieses Stück ansehen und über diverse Parolen nachdenken! Und Martin Kusej würde ich auch empfehlen, sich hineinzusetzen, um einmal zu erleben, wie gutes Theater gemacht wird!

Lebensprall, ganz der Rolle eines „Mannsbildes“, das nur zwei Sachen im Kopf hat: die Fliegerei und den Lebensgenuss: Stefan Jürgens als Harras. Dass er Curd Jürgens, der in dieser Rolle zur Filmikone wurde, auch noch in Statur und Optik ein wenig ähnelt, ist gar kein Schaden. Dennoch bleibt Stefan Jürgens nicht an dem Vorbild hängen, sondern arbeitet sehr deutlich den Wandel vom Superhelden, dem die Nazis auf den Geist gehen und der meint, ihm könne das Regime nichts anhaben, zum Zweifler, bis zum Verzweifelten heraus. Besonders intensiv ist die Schlussszene mit Oderbruch (André Pohl ist großartig, ganz zurückgenommen, s. Foto ), als Harras erkennen muss, dass er an dem mörderischen Krieg mitschuldig wurde, auch wenn er immer nur fliegen wollte. Berührend Dirk Nocker als Korrianke – Chauffeur und treuer Freund von Harras. David Oberkogler spielt den Hartmann punktgenau – zermürbt von der ERkenntnis, dass dieser Krieg sinnloses Hinschlachten ist. Rainer Friedrichsen als Sigert von Mohrungen vertritt den Typus des Deutschen, der an Hitler glauben möchte, aber einsehen muss, dass die Werte, an die er glaubte, dahin sind. Den unsympathischen Intriganten gibt Tobias Voigt ganz ohne die übliche „Naziübertreibung“. Jede einzelne Rolle ist ideal besetzt und wird punktgenau in der Rolle gespielt. Die Frauen haben es ja in diesem Stück nicht gerade leicht, aber in dieser Inszenierung sind sie mehr als nur Entourage. Johanna Arrouas ist ein perfide, ehrgeizige und überzeugte Nazifrau, die sich vom koketten „Pützchen“ zur gefährlichen Intrigantin entwickelt. Emese Fay als mahnende und besorgte Olivia, Elisa Seidel als Anne Eilers als fast antike Tragödin spielen sehr überzeugend. Johanna Prosl als junges Mädchen, das dem Charme des „Helden“ Harras sofort erliegt, meidet in der Liebesszene jeden Hauch von Kitsch.

Kostüme, die in die Zeit passen, und wenige, notwendige Requisiten geben der Aufführung den richtigen Rahmen.

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Mario Giordano, Terra di Sicilia. Goldmann Verlag

Untertitel: Die Rückkehr des Patriarchen

Nein, es ist kein Mafiaroman, wie der Untertitel vermuten lässt. Der Patriarch ist Barnaba Carbonaro, ein armer Schlucker, geboren 1890 in Taormina, lange bevor die Stadt zum Nobeltreff von Künstlern, Schwulen und Reichen wurde. Barnaba wächst in ärmlichsten Verhältnissen auf, der Vater verschiwndet, die Mutter verdient ein paar Lira als Heilerin. Der Bub hat es bald heraußen, dass man beim Baron von Gloeden ein bisserl was verdienen kann, wenn man sich nackt fotografieren lässt. Das tut nicht weh, und er lernt dabei einiges. (Von Gloeden wird später mit seinen Nacktfotos berühmt werden und die Schwulenszene in Taormina befördern.) Doch das Geld reicht nie, er schuftet in den Olivenhainen. Als er größer wird und sich verliebt, träumt er davon, für seine Angebetete ein Hotel zu eröffnen. Daraus wird nie etwas. Die Angebetete entschwindet mit seinem „Freund“, dem adeligen Ruggero.

Was Barnaba exzellent kann, ist blitzschnell rechnen. Bevor andere den Bleistift zücken, hat er schon alles ausgerechnet. Obwohl er nicht lesen und schreiben kann, gelingt es ihm schon in jungen Jahren, in das Orangengeschäft ganz groß einzusteigen und in Deutschland die Nummer 1 auf dem Großgrünmarkt zu werden. Dazwichen heiratet er, zeugt vierundzwanzig Kinder, tötet einen Mann. Und am Ende verliert er alles, alles, nur nicht seinen Mut und Stolz. Bis zu seinem Tode wird er optimistisch und weltoffen bleiben.

Mario Giordano erzählt auf 500 Seiten seine spannende Familiengeschichte, wobei er betont, dass er einiges dazu erfunden hat. Denn schließlich ist es ein Roman und keine „Familiensaga“. Mit einer Sprache, die zwischen Witz, leisem Humor und feiner Poesie oszilliert, entführt uns der Autor in ein Sizilien, das aus vielen Armen, die schufteten, ein paar Großverdienern, wie die Familie Florio (deren Imperium existiert heute nur mehr rudimentär) und einem trägen Adel, der sich beim Untergehen zuschaut und nichts dagegen unternimmt, bestand. Wer Sizilien nur ein bisschen kennt, dem fällt auf, dass sich nicht allzu viel geändert hat. Viel von der sizilianischen Tradition ließ der Autor hineinfließen, etwa die genaue Beschreibung der Arbeit in den Orangenhainen, alte Lieder und Sprichwörter und auch den bis heute noch vorandenen Glauben, dass die Toten mit den Lebenden noch eine Weile zusammen bleiben. Aber Giordano ist kein Opfer seiner Recherchen, wie so viele Autoren, die dem Leser ihre Recherchearbeit ganz ungefiltert aufbrummen. Giordano versteht es, all sein Wissen über Sizilien, das Orangengeschäft und die Bedeutung der Familie so spannend zu verarbeiten, dass man traurig ist, wenn der Roman zu Ende ist. Im Nachspann verspricht der Verlag eine Fortsetzung!!

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Stefan Hertmans: Der Aufgang. Diogenes

Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm

Der Verlag nennt das Werk einen Roman. Er ist aber eher eine historische Dokumentation in Erzählform. Der Autor hat die Fäden in der Hand, er zählt über die Spuren, denen er nachgeht. Leser, wie ich, mit der Geschichte der Niederlande nur in großen Zügen vertraut ist, der wird sich bald in den Irrgängen der Recherchen ein wenig überfordert fühlen.

Stefan Hertmans hat in der belgischen Stadt Gent ein altes Haus gekauft, zieht nach Jahren wieder aus und erfährt, dass einst ein gewisser Willem Verhulst mit seiner Familie dort gewohnt hat. Seine Recherchen ergeben, dass dieser Verhulst ein ganz übler Nazikollaborateur war. Er ließ durch seine Spione Listen von Bürgern erstellen, die gegen die deutschen Besatzer waren. Durch diese Zusammenarbeit mit den Deutschen gewann er großen Einfluss in der Stadt und sah ungerührt zu, wenn die von ihm genannten Menschen verhaftet, deportiert oder hinggerichtet wurden. Das wirklich Interessante an dieser Geschichte sind aber seine Frau und seine Kinder. Seine Frau Meintje ist sehr gläubig und aus tiefstem Herzen Pazifistin. Wie kommt sie mit so einem Mann zurecht? Es ist ihr Glaube, der ihr hilft, das alles zu überstehen. Obwohl sie einiges ahnt, was Willem so treibt und sie Hitler und die Nazis aus tiefstem Herzen verachtet, hält sie zu ihm und besucht ihn sogar nach Kriegsende im Gefängnis, wo er für seine Taten sitzt. Sie hält alles aus, bleibt in ihrer Haltung unerschütterlich und gibt das ihren Kindern weiter. Die müssen damit leben lernen, dass ihr Vater ein Nazicollaborateur war. Stefan Hertmans weiß diese Frau sehr sensibel zu beschreiben und macht es auch glaubwürdig, dass sie bis zum Tod des Mannes zu ihm steht. Diese Seite des „Romanes“ ist am berührendsten, weil es vom Klischeebild einer von Nationalsozialismus geprägten Familie durchaus abweicht.

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Nell Leyshon, Ich, Ellyn. Eisele Verlag

Aus dem Englischen von Wibke Kuhn

„Ich lieg auf heu was süß riecht und nach totsommer und ich horche und weinen kommt wieder..“ So beginnt der Roman, – unverkennbar Nell Leyshon. Man erinnert sich sofort an“Die Farbe von Milch“ – in beiden Werken beschreibt Leyshon den Weg eines jungen Mädchens aus der Enge eines Bauernhofes hinaus in die WElt, in der es Sprache gibt. Leyshon gelingt in beiden Romanen das Unwahrscheinliche: Sie greift auf eine „Unsprache“ zurück, in der sich die Mädchen nicht ausdrücken können, im Unvermögen des Sprechens stumpf bleiben, bis sich alles ändert und sie mit der zunehmenden Ausdrucksfähigkeit nicht nur die Welt sich erweitert, sondern sie auch zu einem Selbstbewußtsein finden, das sie mutig macht.

England 1573, irgendwo in der Einöde. Da wächst Elly heran, weiß nichts von sich, von der Welt rundum, kennt nur das Schuften, die Plage und Hunger. In der Familie wird nur das Nötigste geredet – meist nur Arbeitsbefehle oder kurze Gebete. Eines Tages entdeckt Elly die Musik und den Gesang. Sie ahmt nach, entdeckt, dass sie „singen“ kann. Heimlich verlässt sie den Bauernhof und macht sich auf in die Singschule. Mutig verkleidet sie sich als Bub, um aufgenommen zu werden. Sie lernt lesen, schreiben und vor allem -singen. Die Musik bedeutet ihr alles. In ihr wächst mit dem Selbstbewusstsein auch die Sprache. Für den Leser fast unmerklich lässt die Autorin Elly aus der Hilflosigkeit des Ausdrucks in eine zarte poetische Sprache gleiten. Als Elly am Höhepunkt ihrer Ausbildung ist, gibt sie ihre Identität als Mädchen preis und muss die Schule verlassen. Aber sie ist mutig geworden und hat Stolz und selbstsicher verkündet sie am Ende: “ Ich komme dich holen. Ich, Ellyn, ich komme dich holen, Agnes.“ Sie wird ihre kleine, über alles geliebte Schwester Agnes aus dem Elend des Bauernhofes herausholen.

Ein Roman voller Poesie und starker Aussagekraft, in dem man hineinkippt und irgendwie froh und getröstet wieder in den Alltag zurückkehrt.

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