„Alle Welt liest Elena Ferrante“ soll die FAZ geschrieben haben. So steht es jedenfalls auf der Rückseite des Covers. Das mag eine Übertreibung sein, aber wahr ist: Viele reden über das Buch, über die Autorin, von der man nicht weiß, wer dahinter steckt – angeblich soll ein Journalist das Geheimnis schon verraten haben. Aber das alles gehört in den Bereich „marketinggag“ und Verkaufsstrategie.
Tatsache ist: Das Buch ist wirklich ausgezeichnet! Und man beendet es nur ungern – aber es gibt ja schon den 2. Teil. Vordergründig geht es um die Geschichte einer Kinder- und Jugendfreundschaft in den 50er Jahren in Neapel. Lila und Lenu sind unzertrennliche Freundinnen. Lila bestimmt, was gespielt wird, Lenu folgt ihr wie ein Hündchen. Ihre Wege trennen sich für kurze Zeit, als Lenu das Gymnasium besuchen darf. Aber sie bleiben dennoch immer im Kontakt, denn zu sehr hängt Lenu von „ihrer genialen Freundin“ ab. Mit der Pubertät tritt Lenu in eifersüchtige Distanz zu Lila, die sich mit einem wohlhabenden jungen Mann verlobt. Der Roman endet mit der Hochzeit Lilas. Dieser Plot klingt banal. Aber der Autorin gelingt es, so ziemlich alle Probleme der Stadt und der Nachkriegszeit ohne moralischen Zeigefinger hineinzupacken: Die Armut der Familien, die Chancenlosigkeit der ungebildeten Eltern und Kinder. Lenu ist eine der wenigen Ausnahmen, die statt irgendeine Lehre zu absolvieren oder gleich zu heiraten, das Gymnasium wählt. Die sprachliche Barriere zwischen der bürgerlichen Schicht, die Italienisch spricht und sich dementsprechend ausdrücken kann, und den Bewohnern des Rione, wo nur Dialekt gesprochen wird, wird immer wieder angeführt, ebenso all die Grenzen und Barrieren, die die Kindern dieses Viertels wahrscheinlich nie in ihrem Leben werden überwinden können. Ein Neapel der Chancenlosigkeit, aber nicht der Lieblosigkeit schildert Ferrante. Denn trotz der Armut haben die Kinder eine fast sorglose Kindheit: sie spüren die Armut nicht, weil alle gleich arm sind. Erst die Ausflüge in die andere Welt der weniger Armen, der Begüterten und der Reichen machen ihnen den Abstand zur Welt des Erfolges bewusst. Dass es unter den Bewohnern des Rione auch weniger Arme gibt, die mit Mafia-Methoden die anderen in der Hand haben, ist auch ein Thema.
Man erfährt viel mehr über Neapel und über die Probleme der Nachkriegszeit als in Curzio Malapartes Roman „Die Haut“, wo die Grausamkeiten um ihrer selbst willen beschrieben werden. Bei Ferrante existiert das Grausame, das Teuflische (sie setzt ja den Auftrag Gottes an Mephisto aus Goethes Faust als Motto voran), aber schreibt es dem menschlichen Charakter als immanent zu, geboren aus den Missständen.