Andrea Spingler verdanken wir die ausgezeichnete Übersetzung eines literarisch hochinteressanten und faszinierenden Werkes. Jean-Luc Seigles Sprache ist hart-realistisch und zugleich sehr poetisch. Ihre starke Sogwirkung zieht den Leser in das Geschehen hinein, auch in die grausamsten Stellen, wie etwa die Vergewaltigungsszene.
Einmal mehr geht es um eine wahre Geschichte! – Es scheint, dass in der Gegenwartsliteratur die Neigung sowohl bei Autoren, Verlagen und wahrscheinlich auch bei Lesern für wahre Begebenheiten oder Biografien zunimmt und das Interesse an der rein fiktionalen Literatur abnimmt. (Siehe auch meine Besprecheung von de Vigan, Eine wahre Geschichte) Vielleicht liegt es an der allzu subjektiven sprachlichen Nabelschau, die besonders der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nachgesagt wird.
Pauline schreibt ihre Geschichte in ihrem Haus in Essaouira auf. Dorthin ist sie aus Frankreich geflohen, um ihrer Erinnerung zu entgehen und mit neuem Namen ein neues Leben zu beginnen. Ihre Kindheit in Frankreich während des 2. Weltkrieges war geprägt von Trauer: Zwei ihrer Brüder sind im Krieg gefallen, die Mutter verweigert sich monatelang dem Leben und ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Kochen. Da sendet der Vater die junge, hübsche Pauline als Krankenschwester zu einem deutschen Arzt, in der berechtigten Hoffnung, dass ihre Schönheit diesen betören und er sie mit ausreichend Lebensmittel versorgen wird. Dieser perfide Plan geht auf – Pauline wird nicht nur die Assistentin, sondern auch seine Geliebte. Und sie bringt Lebensmittel nach Hause. Was der Vater hoffte, passiert:: Die Mutter beginnt wieder zu kochen und sich dem Leben zuzuwenden. Doch bei Kriegsende wird Pauline vom Pöbel aus dem Haus gezerrt, als Deutschhure geschoren und grausam vergewaltigt. In letzter Minute kann der Vater aus sie aus diesem Albtraum heraus holen. Er bringt sie in ein Dorf, wo niemand sie kennt und sie sich in seelischer Dunkelheit verkriecht. Doch der Vater fordert ihre Intelligenz und ihren Lebensmut heraus – sie beginnt Medizin zu studieren, verliebt sich über alle Maßen in einen Studenten aus gutem Haus. Als er von ihrer Vergangenheit erfährt, wendet er sich ab und beschimpft und verspottet sie. Sie erschießt ihn im Affekt. Ihr Prozess wird eine Show – man stellt sie als Monster hin, verurteilt sie zu Tode, dann jedoch zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe, aus der sie nach 9 Jahren frei kommt. Inzwischen ist ihre Geschichte auch verfilmt worden und sie entzieht sich dieser Qual, immer wieder ihrer Geschichte zu begegnen, und beginnt ein neues Leben in Essaouira( Marokko). Dort verliebt sie sich in einen Marokkaner, der sie heiraten möchte. Für ihn schreibt sie die Geschichte auf. Doch als er die „Wahrheit“ über sie erfährt, wendet er sich von ihr ab.
In einer Sprache, die den Skandal und die Effekthascherei scheut, zieht der Autor den Leser in die Tiefen einer gequälten Seele hinein. Man folgt ihr, widerstrebend bis in die tiefste Erniedrigung der Vergewaltigung. Ohne sich dabei des Voyeurismus zu bezichtigen. Man muss ihr folgen. Wie um mit ihr durch einen Reinigungsprozess zu gehen. Das Buch hat die Kraft einer Wiederbelebung: Pauline wird stellvertretend für viele Frauen, die solch ein Schicksal erlitten, durch ein literarisches Reinigungsritual von jeglicher Schuld der „Konspiration mit dem Feind“ frei gespochen. Die Schuld trifft die Menschen, die solche Racheakte vollzogen.