Wenn Joseph Lorenz Schnitzler, Roth oder Werfel liest, dann füllt sich der Saal bis in die letzten Reihen. Nach mehreren Abenden im „Dachstüberl“ des Theaters, wo es geschätzte 50 bis 80 Sitzplätze gibt und viele Fans keine Karten mehr bekamen, – nun also endlich die Übersiedlung in den Hauptsaal!
Mit seiner starken Bühnenpräsenz erreichte Joseph Lorenz auch die Besucher in den letzten Reihen. Es muss wieder einmal gesagt werden: Selten zieht ein Schauspieler bei Lesungen das Publikum so tief in die Erzählung hinein. Man meint, in einem Theaterstück zu sitzen, so plastisch erscheinen die einzelnen Figuren!
Die Erzählung „Eine blassblaue Frauenschrift“ schrieb Franz Werfel 1940 in Sanary sur Mer, wo er mit seiner Frau auf eine Ausreise in die Staaten wartete. Es ist eine Rückschau auf das Jahr 1936, als Wien schon ganz schön braun eingefärbt war und man Juden verächtlich als „Israeliten“ bezeichnete. Werfels Erzählung ist nicht hasserfüllt und ergeht sich auch nicht in einer simplen Schwarzweißmalerei, sondern ist eher eine fein gesponnene, subtile Entlarvung eines „Mitläufercharakters“: Leonidas stammt aus ärmlichen Verhältnissen und verdankt seinen Aufstieg in die Wiener Gesellschaft dem Selbstmord seines jüdischen Nachbarn, der ihm einen Frack hinterließ. Mit diesem Kleidungsstück erschwindelt er sich den Eintritt in die „gehobene Wiener Gesellschaft“. Nun ist er mit 50 Jahren am Höhepunkt seiner Karriere: Auf den angesehenen Ministerialbeamten im Unterrichtsministerium hören Minister. Er kann mit seinem Leben zufrieden sein. Was will ein Mann mehr: eine reiche, schöne, um Jahre jüngere Frau, dezente Seitensprünge, die nie seine Ehe gefährdeten. Alle längst vergessen. Bis auf Vera, die schöne Jüdin. Ihr Brief rüttelt ihn auf, gefährdet sein Gleichgewicht. Doch am Ende ist alles gut: Er braucht sich um nichts und niemanden zu sorgen: Vera verschwindet nach Montevideo. …Alles wie vorher, kein Grund für Geständnisse, für Gewissensbisse.
Joseph Lorenz taucht in den Text bis tief auf seinen Grund, lässt Worte bedeutungsschwer aufglänzen. Etwa, wenn er über den Frack spricht, den der verzweifelte jüdische Student Leonidas vermacht. Da hallt das Wort in den Köpfen der Zuschauer wider und bleibt dort drinnen als Symbol der Heuchelei. Oder wenn er die „Israeliten“ mit all der Verachtung, die Leonidas für die Juden aufbringt,belegt. Mehr braucht es nicht, und das Bild des braunen Wien entsteht vor dem geistigen Auge der Zuschauer. Lorenz macht aus Erzählungen Dramen, eingeteilt in Miniakte. Er ziseliert die Figuren subtil heraus, wird zum Heuchler Leonidas, in der nächsten Sekunde wechselt er die Fronten und ist die Ehefrau Amelie, die in hysterisches Schluchzen ausbricht. Textstellen, über die man vielleicht beim Lesen hinwegsieht, arbeitet er zu Wortkostbarkeiten aus. Mit dieser intensiven Dichte führt er die Zuhörer durch die Erzählung, ohne sie auch nur eine Sekunde in ein gemächliches Zuhören verfallen zu lassen. Bis zum Rande des Möglichen erschöpft, entlässt er sich selbst nur langsam aus der Erzählung.
Ein begeistertes Publikum spendete viel Applaus und Bravos!
Theater Akzent – Programm und Karten: www.akzent.at