Aus dem Italienischen sehr feinfühlig übersetzt von Ulrich Hartmann
Ammaniti ist Fans der italienischen Literatur längst ein Begriff.“Io non ho paura“ ist eines seiner frühen Bücher, das er wahrscheinlich in den späten 90ern schrieb. 2001 erschien es bei Mondadori und nun also in deutscher Fassung („Ich habe keine Angst“) im Eisele-Verlag.
Ein vier Häuser-Seelendorf , irgendwo im Süden Italiens, es könnte in der Toscana oder Apulien liegen. Aber die von Weizen bedeckten goldgelben Hügel lassen eher Sizilien vermuten. Auch die übergroße Armut, von der Ammaniti immer wieder spricht.
Ammaniti erzählt in der Ichform aus der Sicht des 9-jährigen Michele. Später erfährt man, dass es die Sicht und Erinnerung des Erzählers ist, der sich hin und wieder einschaltet. Was sofort beim ersten Lesen auffällt: Ammaniti schreibt aus der Seele des Kindes. In einer authentischen Sprache erleben wir die Zweifel, Ängste und Gewissensbisse des Buben. Ganz ohne Verkindlichung. Im Gegenteil – die Welt in dem Dorf ist hart. Hart die Erziehungsmethoden – die Mutter versohlt Michele ganz ordentlich, effektiver als ein Mann. Zugleich aber liebt sie ihn und verteidigt ihn mit Tritten und Fausthieben gegen jegliche Angriffe. Den Vater liebt Michele vielleicht noch mehr, wohl weil er nicht allzu oft zu Hause ist. Kehrt er von seinen langen Fahrten mit dem Lastwagen zurück, wird er stürmisch begrüßt, besonders von Maria, der um fünf Jahre jüngeren Schwester.
Obwohl Michele sich oft über sie ärgert, weil sie ihm wie ein Hündchen überall nachfolgt, beschützt er sie dennoch. So beginnt der Roman: Michele sorgt sich um Maria, als sie ihm irgendein Wehwechen vorjammert. Obwohl er weiß, dass sie nur Theater macht, klinkt er sich aus dem Spiel mit seinen Freunden aus, verliert auch den ersten Platz im Radwettfahren. Als Barbara, ebenfalls eine nicht gewollte Mitgespielin, vom Anführer Totenkopf dazu verurteilt wird, ihre Hose runterzulassen und ihre Vagina zu zeigen, macht Michele sich erbötig, an Stelle Barbaras die ausgedachte Strafe auf sich zu nehmen: Er muss auf den Hügel hinauf und in das verfallene Haus hineinklettern, in dem er und keiner von den Freunden noch je waren. Dabei fällt er in ein Erdloch, wo er einen zum Skelett abgemagerten Buben findet. Erschrocken will er fliehen, doch dann merkt er, dass das Skelett lebt, und schon regt sich in ihm sein Mitgefühl. Er verspricht ihm zu helfen.
Warum ich darüber so ausführlich schreibe? Weil schon in den ersten Seiten der Charakter Micheles klar wird: Gerechtigkeitssinn und Mitgefühl für andere sind stark ausgeprägt. Das Ende des spannenden Romans ist spiegelbildich zum Anfang komponiert: Er wird unter hohem Risiko diesen Jungen vor dem Tod retten.
Wunderbar baut Ammaniti die Handlung in die Landschaft und das Wettergeschehen ein. „Alles war mit Korn bedeckt. Die niedrigen Hügel folgten aufeinander wie Wellen eines goldenen Ozeans. Bis zum Horizont nur Korn, Himmel, Grillen, Sonne und Hitze.“ (S 10) Das ist nicht die Sprache des Kindes, sondern die des Erzählers, der sich erinnert. Wie die beiden Sprachebenen fast unmerklich ineinander fließen, das ist große Sprachkunst. Die alles verbrennende Sonne raubt den Erwachsenen den Verstand, die Armut treibt sie in das Verbrechen – die Bewohner des Dorfes werden zu Entführern, um von den Eltern Lösegeld zu erpressen. Als die Sonne alle in die Häuser treibt, legt sich bleierne Stille über das Dorf. Doch ein Gewitter entlädt die Spannung – die Bewohner beschließen den im Loch gefangen gehaltenen Buben zu töten, weil die Aussicht auf Lösegeld gleich null ist.
Anfang der 70er bis in die 90er Jahre wurden in Italien Kinder reicher Eltern, namhafter Politiker gestohlen, um Geld zu erpressen. Diese Verbrechen gingen nicht immer zu Lasten der Brigate Rosse, sondern geschahen oft aus bitterster Armut heraus. Sardinien war damals trauriger Vorreiter in Sachen Entführung. Wohl aus diesen Erinnerungen heraus schrieb Ammaniti diesen Roman.