Bearbeitung der Novelle und Inszenierung: Jacqueline Kornmüller. Musik: David Müller und Klemens Lendl, bekannt als Die Strottern. Gitarrist und Erzähler: Peter Rom.
Foto: Der Schafsmann (Peter Wolf) und der Junge (Nils Arztmann)
Ein Zauber liegt über der Bühne: Große Bücher stehen in diagonalen Linien quer durch den Raum.. Ruhig geht die Aufseherin durch, prüft, ob sie alle ordentlich ausgerichtet sind. Denn Ordnung ist in einer Bibliothek oberstes Gebot. Was dann geschieht, ließe sich in drei banalen Sätzen erzählen: Ein Jugendlicher betritt die Bibliothek, um sich Bücher über das Steuersystem im Osmanischen Reich auszuborgen. Der Bibiothekar führt ihn in einen unterirdischen Keller, wo er ihn einsperrt. Mit Hilfe eines wundersamen Vogels kann er sich befreien. Das wäre in dürren Worten der Inhalt der Geschichte.
Jacqueline Kornmüller faltet aus dieser Erzählung alles Wunderbare und Märchenhafte heraus und bezaubert mit Musik und schlichter Dialogführung das Publikum. Jede Bewegung und jedes Wort wird zum Märchen, zum Wunderbaren hin choreografiert. Schüchtern betritt der Junge(Nils Arztmann)die Bibliothek. Er ist kein Draufgänger, kein Revoluzzer. Sondern wohlerzogen. Seine Ängste kaum verbergend fragt er den strengen Bibliothekar (Christian Nickel) nach Büchern zum Thema „Steuerhinterziehung im Osmanischen Reich – in der Schnelligkeit ist ihm kein anderes Thema eingefallen. Mit drei Wälzern ausgerüstet muss er eine steile Treppe hinunter in ein Kellerverlies steigen. Er will nicht, wehrt sich. Die Situation ist kafkaesk: Der strenge Bibliothekar kettet ihn an ein Lager. Warum, was hat er verbrochen? Er weiß es nicht, die Angst wird immer größer. Als ein geheimnisvoller Schafsmann (Peter Wolf) das Verlies betritt, steigern sich die Ängste zu Todesangst. Wenn er nicht gehorcht – so der Schafsmann – , wird ihm der Bibliothekar den Kopf abschneiden und das Gehirn untersuchen. All das wird teils vom Erzähler, teils vom Jungen berichtet, von einer sanften Musik untermalt und der grausamen Prophezeihung die Schärfe genommen – es wirkt, als wäre alles nur ein Traum. Die Bücher über das Osmanische Reich entführen den Jungen in die orientalische Märchenwelt, eine junge Schönheit (Manaho Shimokawa) bringt ihm Essen. Sie ist stumm, doch ihre Gesten sind zärtlich und tröstlich. Der Bibliothekar möchte den Jungen im Keller behalten und erklärt ihm, hier drinnen sei die reale Welt, alles außerhalb seien nur Schatten. – Ein umgekehrtes Höhlengleichnis! Doch der Junge will nicht bleiben – er sorgt sich um seine Mutter, die vor Kummer sterben könnte, und um seinen geliebten Vogel. Schafsmann, stumme Schönheit und er fliehen gemeinsam. Ein geheimnisvoller Vogel hilft und tötet den Bibliothekar. Der Schluss bringt die nüchterne, reale Welt zurück: Die Mutter fragt nicht, wo er gewesen, es scheint keine Minute vergangen zu sein, seit er das Haus verlassen hat. Nur sein geliebter Vogel ist tot.
Das Publikum erlag eineinhalb Stunden der märchenhaften Verführung, die dieser Aufführung innewohnt, und dankte mit frenetischem Applaus.
Noch bis zum 5. Oktober 2022. 2023 Wiederaufnahme: 19.-21., 28.29. Jänner, 2. und 3. Februar 2023