Inszenierung:David McVicar, Dirigent: Gerrit Prießnitz. Text von Myfanwy Piper, übersetzt von Hans Keller und Claus Hemberg. Nach der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann
Selbstzweifel, Schreibhemmungen, es geht gar nichts mehr ….seit Goethes Faust ein immer wiederkehrendes Thema in der Kunst. Aber keiner hat es so tief erfasst wie Goethe. Und dann noch Thomas Mann. Wenn ein Künstler sein Talent in Frage stellt, die Quelle der Eingebungen versiegt und die Sprache verstummt, dann wird aus der Schreibkrise eine Lebenskrise.
So weit bei Goethe und Mann nachzuvollziehen und von späteren Vertretern der schreibenden Zunft immer wieder als Thema aufgegriffen und zu einem Text verarbeitet. (Zuletzt Leila Slimani in ihrem jüngst erschienenen Buch: Der Duft der Blumen bei Nacht. Auch sie fährt nach Venedig, um sich aus der Schreibhemmung zu lösen. Der Leser gähnt ausgiebig mit ihr). La Serenissima soll also schon allein durch die Kraft der Musik, die in dem Namen steckt, die Phantasie Aschenbachs beflügeln. Doch leider muss er erkennen, dass Venedig mehr denn je sich als Theater für Touristen aufführt. Der erwartete Ideenschub bleibt aus. Erst der Blick auf den schönen Knaben Tadzio (dargestellt von dem jungen Balletttänzer Victor Cagnin) rüttelt ihn auf und er hofft darauf, dass diese plötzlich entflammte Liebe die Schleusen öffnet und die Worte fließen lässt. Trotz Choleragefahr bleibt Aschenbach, um Tadzio nahe zu sein. Noch in der letzten Lebensminute meint er den schönen Knaben zu sehen, wie er ihm zuwinkt und ihn in ferne Horizonte lockt.
Die Novelle wurde von Visconti 1971 erfolgreich verfilmt, Der Regisseur McVicar meinte wohl, es hätte nicht viel Sinn, gegen diese szenegewaltige Verfilmung anzugehen. Also folgte er ihm, oft allzu sklavisch. Wenn die Reichen und Schönen zum Diner schreiten, wenn die russische Familie sich am Strand breit macht, wenn die Kinder raufen, tanzen, wenn Tadzio hinter der Familie marschiert, immer sich diskret umwendend, ob Aschenbach ihm folgt. Viele im Publikum werden ein Dauerdéjà – vu – Erlebnis haben. Nur leider sind viele Szenen zu lang geraten (- etwa die raufenden und tanzenden Kinder am Strand) und werden zu oft wiederholt, was das Werk zerdehnt. Kürzung hätte gut getan. Bühnenbild und Kostüme von Vicki Mortimer bleiben wie der Film auch in der Zeit um 1900. Manche Bilder emanzipieren sich und entwickeln eine vom Film unbeeinflusste Kraft, etwa die Szene mit dem Gondoliere (Johannes Wimmer in mehreren Rollen), der Aschenbach an den Lido rudert. Mit gekonntem Lichteinsatz wird daraus eine düstere Fahrt ins Ungewisse des nahen Todes.
Die Leistung von Rainer Trost als Gustav von Aschenbach ist besonders hervorzuheben. Im Dauereinsatz auf der Bühne hat er in einem anstrengenden Sprechgesang das Geschehen und zugleich seine eigene Gefühlslage zu kommentieren. Die Rolle des Tadzio, der mit seiner Jugend und Schönheit den alternden Dichter in den Bann zieht, ist mit Victor Cagnin eine Fehlbesetzung. Denn von dem Tänzer springt keinerlei Erotik über. Und damit steht und fällt der Sinn der Geschichte. Aber die Musik rettet viel, fast alles. Unter der sensiblen Führung von Gerrit Prießnitz entfaltet sich die ganze Dynamik der Oper: Von der Düsternis des nahen Todes, von der Sinnlosigkeit der reichen Gesellschaft bis hin zur zarten Liebe, die Aschenbach für Tadzio empfindet, erzählt alles die Musik.
P.S: An dieser Stelle möchte ich Direktor Robert Meyer für die fünfzehn spannenden und abwechslungsreichen Abende in der Volksoper danken. Besonders aber auch für seine offenen Worte in der Sendung „Gedanken“ auf Ö1 am Sonntag, 29. Mai 2022. Endlich einmal spricht einer aus, was ich mich schon immer fragte: Was bewegt die Politiker bei der Bestellung diverser künstlerischer Leiter? – Wie kommen sie zu den Nominierungen, ohne je im Theater gesehen worden zu sein????